: Horrortrip im Tiefkühlfach
Hertha verdaddelt gegen Wolfsburg eine 2:0-Führung, was die Temperatur im Verein so tief sinken lässt wie die im Stadion – auf minus 5 Grad nämlich. Die Fans erwärmen sich derweil an dem Gedanken, Trainer Stevens in die Eiswüste zu schicken
von FRANK KETTERER
Sie haben sich wirklich Mühe gegeben bei Hertha, alle zusammen, um ein bisschen vorweihnachtliche Wärme in ihre triste Großbaustelle zu zaubern. Haben ein paar windschiefe Tannenbäumchen aufgestellt, sogar Lichtlein drangehängt, der Stimmung wegen, und so hätte es eigentlich ein netter Samstagnachmittag im Advent werden können, mit einem Becherchen dampfenden Glühweins, etwas Fußball – und natürlich einem Sieg über den VfL Wolfsburg.
Beim heiligen Sankt Nikolaus, es hätte so heimelig werden können. Aber es wurde: ein Horrortrip in der Tiefkühltruhe. Und am Ende, nachdem der Wolfsburger Kim Madsen in der Nachspielzeit zum ausgleichenden 2:2 eingeköpfelt hatte, ärgerten sie sich nur noch über die Bescherung, die sie sich da selbst angerichtet hatten und die keine schöne war, weil man sich wirklich schon ziemlich dumm anstellen muss, wenn man eine 2:0-Führung – Simunic mit seinem ersten Bundesligator (25.) und Goor (47.) hatten getroffen – noch so verdaddelt, wie das die Hertha am Samstag getan hat. Kalt war es zu diesem Zeitpunkt geworden, bitterkalt – und die Gradzahl, die das Thermometer draußen im Olympiastadion anzeigte, dürfte sehr identisch gewesen sein mit der, die derzeit auch drinnen herrscht, im Verein: minus 5!
Es ist also Eiszeit bei Hertha, und leicht erkennen konnte man das an ihren Sätzen, die allesamt gesprochen wurden in eiskaltem Ton. „Unfassbar“, fand Manager Dieter Hoeneß so den „kollektiefen Tiefschlaf“ seiner Mannschaft, die „um den Ausgleich gebettelt“ habe, obwohl sie sich doch 60 Minuten lang „auf dem Weg zu einem relativ ungefährdeten Sieg“ hatte wähnen dürfen. Warum die Hertha danach einbrach wie ein Schlittschuhläufer auf dünnem Eis, wusste aber auch der Manager nicht mit Bestimmtheit zu benennen, nur dass es nimmer hätte passieren dürfen. „Da muss man konzentriert sein bis zur letzten Minute“, forderte Hoeneß. Mehr konnte auch er nicht sagen, nur das noch: „Dazu fällt mir nichts mehr ein.“
Das klingt ein bisschen ratlos, und tatsächlich kann einen die Hertha im hereinbrechenden Winter 2002 das auch machen: Kommt einfach nicht nach vorne, sondern trampelt stur auf der Stelle, von den Champions-League-Rängen, dem selbst erklärten Saisonziel, ziemlich exakt ebenso weit entfernt wie von den Abstiegsrängen. 23 Punkte haben die Herthaner nun gesammelt in 16 Spielen, das sind fünf Zähler weniger als zum gleichen Zeitpunkt in der Vorsaison, vor allem aber ist es: Mittelmaß! Wenigstens den Fans fällt dazu etwas ein, auch wenn es wenig konstruktiv ist: „Stevens raus!“
Huub Stevens, der Trainer, wird die Rufe vernommen haben, auch wenn er das Spiel hinter der Glaswand einer Vip-Loge hatte beobachten müssen, wohin ihn der DFB aus disziplinarischen Gründen verbannt hatte. Mit dem Geschehen auf dem Platz verbunden war der Holländer per Standleitung zu seinem Assistenten Holger Gehrke, der Draht zur Mannschaft freilich ging nach gut einer Stunde dennoch flöten, was Stevens nicht nur enttäuschte, sondern gar „sehr sauer“ machte. Und Sätze sagen ließ wie diesen: „Wenn man 2:0 führt und gibt es noch aus den Händen, hat man es auch nicht verdient.“ Oder diesen: „Wenn man so mit Ballbesitz umgeht, bekommt man Probleme. Wir haben heute zu Recht Probleme bekommen.“ Schließlich diesen: „Wenn man mit zwei Toren führt, muss einem das Vertrauen geben. Wir hatten auch nach dem 2:0 kein Vertrauen.“ Das alles ist nicht prinzipiell falsch. Einerseits. Andererseits liefert auch das nicht wirklich eine Erklärung für all den Kollaps.
Zumindest eine Ahnung über die Gründe scheinen sie aber schon zu haben. Arne Friedrich traute sie sich sogar zu formulieren. „Uns fehlt vielleicht einer, der auf dem Platz die Fresse aufmacht. Es fehlen uns Leader-Typen“, sagte der Jungnationale da. Anders gesagt – und nur weil Wolfsburg der Gegner war: Hertha fehlt ein Effe, nach wie vor.
Der Brasilianer Marcelinho ist es nicht – schon gar nicht, wenn er so spielt wie am Samstag, wo ihm kaum etwas gelang. Paule Beinlich wiederum, gegen Wolfsburg einer der Besseren, ist a) zu oft verletzt und b) irgendwie ein zu netter Kerl. Vom großen Rest bietet sich gleich gar keiner für die Führungsrolle an. Dass sie dieses Manko in Kürze beheben bei Hertha, ist nicht erwartbar, schon gar nicht bis Donnerstag. Da geht es für die Berliner nach Fulham, Uefa-Cup, Rückspiel. Sollten sie auch das vergeigen, würde die Temperatur weiter in den Keller sinken.
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