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„Weine nicht, du bist stark“

Anna Politkowskaja erzählt in ihrem „Russischen Tagebuch“, wie der menschenverachtende KGB-Mann Wladimir Putin allmählich unumschränkte Macht erlangt. Der Westen jedoch will in ihm noch immer nur den vertrauenswürdigen Verbündeten aus dem Reich der unerschöpflichen Bodenschätze sehen

„Im Krieg und auch ohne Krieg wird man all jene erschießen, die ‚nicht zu uns gehören‘ “

VON MICHAEL SCHINDHELM

Anna Politkowskajas brisantes „Russisches Tagebuch“ beleuchtet den gnadenlosen Umbau Russlands zur autoritären Staatsbürokratie unter Präsident Wladimir Putin. Das Tagebuch gleicht einem Horrorfilm aus dem Totenhaus des wieder als Großmacht auftretenden Russland. Thema dieses Buches sind die Erniedrigten und Beleidigten, Hungernden, Gefolterten und Rechtlosen, Männer und Frauen aus der Vorhölle Moskau oder aus dem stummen, frostklirrenden Grauen der kaukasischen und sibirischen Provinzen.

Das Buch ist wie ein klassisches Journal aufgebaut und erzählt aus dem politischen Alltag Russlands von Dezember 2003 bis zum 31. August 2005. Aus akribischen Beobachtungen, kommentierten Nachrichten, Interviews und Analysen ist eine Chronik jener Jahre entstanden, in denen Wladimir Putin die Wahlen zu seiner zweiten Präsidentschaft gewinnt und auf den Trümmern der demokratischen Strukturen zur unumschränkten Macht schreitet.

Das erste Kapitel des Buches erzählt von einem Politiker, der in der Epoche der sowjetischen Stagnation unter Breschnew sozialisiert wird und in den Wirren der späten Perestroika und der Jelzin-Ära zu dem Schluss gekommen sein muss, das Land brauche einen starken Mann à la Stalin oder einen neuen Zaren. Anna Politkowskaja zeichnet von Putin das Bild eines menschenverachtenden ehemaligen KGB-Offiziers auf dem Thron, während der Westen in ihm noch den uneingeschränkt vertrauenswürdigen und verlässlichen Verbündeten aus dem Reich der unerschöpflichen Bodenschätze sehen will.

Gerhard Schröder etwa hielt es 2006 denn auch für unproblematisch, Berater von Gazprom zu werden, jenem Energieriesen, mit dem Putin Russlands Comeback als Großmacht organisieren will. „Europa … ist es müde, vom ‚schlechten Putin‘ zu hören – es möchte sich selbst betrügen und hören, dass er ein guter ist“, notiert Politkowskaja am 24. Februar 2005.

Um seine Ziele zu erreichen, präsentiert sich Putin pausenlos am Bildschirm, während seine Kontrahenten für die wenigen Auftritte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen viel Geld zahlen müssen. Es wird im Vorfeld einiges unternommen, um unabhängige Politiker mundtot zu machen. Sie werden verprügelt, man wirft ihnen Beutel mit abgeschnittenen Ohren oder einem ausgerissenen Herz durch das Fenster in ihre Wohnungen, bis sie freiwillig das Feld räumen.

Der prominente liberale Kandidat Rybkin verschwindet plötzlich für einige Tage, kehrt „wie ein lebender Leichnam, mit Damensonnenbrille auf der Nase und einem Gorilla von Bodyguard neben sich“ zurück und behauptet, Urlaub gemacht zu haben. Seine Frau distanziert sich öffentlich von ihm, der Kandidat flieht nach London, und kurz darauf erklärt der ehemalige KGB-Mann Litvinenko (der eineinhalb Jahre später vergiftet werden sollte), Rybkin sei vermutlich mit der Wahrheitsdroge SP117 unter Druck gesetzt worden. Dann werden 26 Prozent der Stimmen, die Rybkin für seine Kandidatur zusammengebracht hatte, für ungültig erklärt. Rybkin tritt zurück.

Vor den Augen der Chronistin vollzieht sich der Wandel von der Wirtschafts- zur Politik-Oligarchie. Während der Wahlen werden Journalisten drangsaliert. Wodka wird vor den Wahllokalen verteilt. Der ein oder andere Stimmbürger gibt darauf seine Stimme gleich zweimal ab. In Tschetschenien liegen zehn Prozent mehr Stimmen vor, als es Wahlbürger gibt.

Am 16. Januar 2004 schreibt die Autorin: „Putin haucht einer uralten russischen Lebensmaxime neues Leben ein: Warten wir lieber ab, bis der Barin kommt. Unser Herr wird es schon richten. Und zugegebenermaßen gefällt das der Bevölkerung. Also wird Putin die Maske des Menschenrechtlers ablegen.“ Putin verspricht den Menschen Linderung ihrer Leiden, als sei nicht sein eigenes Regime dafür verantwortlich. Er verspricht, dass die Brotpreise gesenkt werden und die Menschen wieder Fernwärme- und Telefonanschlüsse bekommen. Ein Gericht gibt der Klage einer Witwe statt, deren Mann im Moskauer Musicaltheater „Nord-Ost“ während der Geiselnahme umgekommen ist. Ihre Rente wird um zwei Kopeken erhöht [weit weniger als ein Cent; die Red.].

Selbst im Sozialismus der 70er- und 80er-Jahre wurde die Bevölkerung einigermaßen mit Grundnahrungsmitteln und Wärme versorgt. Seitdem ist die Bevölkerung um mehrere Millionen geschrumpft, die Lebenserwartung auf 58 Jahre gesunken. Die Städte und Dörfer werden von Menschen bewohnt, denen die Löhne vorenthalten werden und die keine geregelte medizinische Versorgung mehr kennen. Wie in Modest Mussorgskis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstandener Oper „Boris Godunow“ ist das Volk die tragische Hauptfigur des Geschehens im heutigen Russland.

Eine für westliche Verhältnisse unvorstellbare Opferbereitschaft geht vor allem von Millionen Frauen aus. Das „Russische Tagebuch“ schildert, wie einige dieser Frauen die Speerspitze der Protestbewegung gegen Putin und sein Regime bilden. Generationen dieser Frauen haben Männer und Söhne verloren. Spätestens seit der Katastrophe in der kaukasischen Stadt Beslan am 1. September 2004 richtet sich die Kampfansage der protestierenden Mütter gegen den Präsidenten selbst.

Politkowskaja begleitet die Frauen durch die Ruinen der zerstörten Schule, auf dem Marsch nach Moskau, zu einem Gespräch mit Putin, in den Hungerstreik. Ein Jahr nach der Katastrophe zitiert sie eine Mutter, die ihre Tochter in Beslan verloren hat: „Wir sind schuld, weil wir diese Kinder geboren und sie dazu verurteilt haben, in einem Land zu leben, in dem sie sich als überflüssig herausgestellt haben. Wir sind schuld, weil wir für einen Präsidenten gestimmt haben, der keine Kinder braucht.“

Vor dem Hintergrund der politischen und medialen Gleichschaltung sucht Anna Politkowskaja nach einer letzten Opposition, die diesen Namen verdient. Dabei stellt sie fest, nur die Oligarchen hätten noch die Möglichkeit, effektiv Widerstand zu leisten. Unwillkürlich wird der inhaftierte Milliardär Michail Chodorkowski zu einer Dostojewski’schen Gegenfigur. In den Augen von Politkowskaja hat sich der Mann unter dem Eindruck der Zumutungen, die ihm im Gefängnis angetan werden, von einem Schmarotzer zu einem asketischen Moralisten gewandelt, der den Kampf aufnimmt und bislang alle Angebote ausschlägt, sich freikaufen zu lassen.

Anna Politkowskaja ist vor allem durch ihre Berichterstattung über Tschetschenien berühmt geworden. So ist diesem schlimmsten aller aktuellen Kapitel der russischen Zeitgeschichte auch in diesem Buch ein wesentlicher Teil gewidmet.

Putin haucht einer uralten russischen Lebensmaxime neues Leben ein: Unser Herr wird es schon richten

Es erinnert an den Film „Apocalypse Now“, wenn die Journalistin von ihrem Besuch in Zentoroi erzählt, dem Biwak des zeitweiligen „Regierungschefs“ von Tschetschenien, Ramsan Kadyrow: ein Dorf, dessen Einwohner längst geflohen oder getötet worden sind, verbarrikadierte Häuser mit Schießscharten und Designermöbeln, an denen noch die Preisschilder hängen, mit Folterkellern und Wellnessanlagen. Die Journalistin wird acht Stunden festgehalten, ehe sie bei Anbruch der Nacht auf eine Horde brutaler Offiziere trifft, die sie verhöhnen und bedrohen. Politkowskaja stellt trotzdem ihre Fragen und entgeht nur knapp den Wutausbrüchen Kadyrows.

„Endlich befiehlt Ramsan, mich nach Grosny zurückzufahren. Am Steuer sitzt Mussa, ein abtrünniger Rebell aus Sakan-Jurt, und noch zwei Leute aus Ramsans Wache sind im Wagen. Ich steige in das Auto und denke, dass sie mich unterwegs, auf dieser Straße mit all den Kontrollpunkten, bestimmt umbringen. Aber sie bringen mich nicht um. Mussa scheint nur darauf gewartet zu haben, dass Ramsan außer Reichweite ist. Dann erzählt er mir seine Geschichte. Ich begreife es und sitze doch da und heule. Vor Angst und Abscheu. ‚Weine nicht‘, sagt der Rebell aus Sakan-Jurt schließlich. ‚Du bist stark.‘ “

„Habe ich Angst?“ sind die letzten beiden Seiten des Buches überschrieben. Darin entwickelt die Autorin eine optimistische und eine pessimistische Perspektive für Russland. Im positiven Fall verliert Russland laut Politkowskaja in den kommenden Jahren fünf Millionen Menschen, im negativen zwölf.

„Millionen armer Menschen werden sterben, weil sie sich die – generell kostenpflichtige – medizinische Versorgung nicht leisten können. Junge Leute werden in der Armee ums Leben kommen – in unserer Armee gibt es sehr viele Todesfälle. Im Krieg und auch ohne Krieg wird man all jene erschießen, die ‚nicht zu uns gehören‘ – oder sie werden ins Gefängnis gesteckt, um dort einzugehen.“ Anna Politkowskaja hatte keine Angst. Deshalb wurde sie am 7. Oktober 2006 – an Putins Geburtstag – in der Nähe ihrer Wohnung erschossen.

Die Angst tut ihr Werk jedoch auf unserer Seite. Der Westen macht sich schnell zur Geisel der aggressiven russischen Energiepolitik und hält sich lieber aus der unappetitlichen innenpolitischen Lage Russlands heraus. Es bleibt abzuwarten, wie lange sich der Westen diese Haltung leisten kann. Das „Russische Tagebuch“ ist für uns eine politische Lehrstunde.

Anna Politkovskaja: „Russisches Tagebuch“. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Alfred Frank. DuMont Verlag, Köln 2007, 314 Seiten, 24,90 Euro Michael Schindhelm leitete von 1996 bis 2006 als künstlerischer Direktor das Theater Basel, war bis Februar 2007 Generaldirektor der Opernstiftung Berlin und wird demnächst Kulturdirektor im arabischen Emirat Dubai. Geboren 1960 in Eisenach, lernte er in der DDR und in der Sowjetunion die Geheimdienste des Staatssozialismus kennen. Er wurde als Student wegen seiner Westkontakte vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit bespitzelt und dabei als interessante Informationsquelle ausgemacht. 1984 wurde er als Auslandsstudent im russischen Woronew mit KGB-Methoden erpresst, ein Dokument zur Stasimitarbeit zu unterschreiben. In seinem autobiografisch gefärbten Roman „Roberts Reise“ (dtv, 9,50 Euro) berichtet Michael Schindhelm über sein Leben im Sowjetimperium.

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