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Zurück zur Revolution

Der Pico Turquino ist Kubas höchste Erhebung. Der knapp 2.000 Meter hohe Berg liegt inmitten der Sierra Maestra, jener Bergregion, in der die kubanische Revolution ihren Anfang genommen hatte

Der Weg führt vorbei an wilden Orchideen, Farnen und Pinienwäldern

VON OLE SCHULZ

„La mala vida“, das schlechte Leben, ein Leben voller Vergnügungen und Laster, das war es, dem ich endlich entkommen wollte. Das ist in Kuba wahrlich kein leichtes Unterfangen, wo einem an fast jeder Straßenecke ein tragito, ein klitzekleines Schlückchen Rum, angeboten wird; am Ende der Nacht sind manchmal mehrere Flaschen geleert, der unweigerlich folgende Kater am nächsten Morgen ist entsprechend schrecklich.

Doch ich hatte mir fest vorgenommen, mit dem Beginn der Trekkingtour all dem abzuschwören. Mit einem kleinen Rucksack auf dem Rücken setze ich vorsichtig Fuß vor Fuß, Schritt für Schritt stets bergauf. Wir sind eine Wandergruppe von zehn Deutschen und einem kubanischen Tourbegleiter, deren Ziel der Pico Turquino ist – Kubas höchste Erhebung inmitten der Sierra Maestra, jener Bergregion, in der die kubanische Revolution ihren Anfang genommen hatte. Jetzt, wo Fidel Castros Tage allmählich gezählt zu sein scheinen, zu den Ursprüngen zurückzukehren hielt ich für eine ausgezeichnete Idee für den Anfang eines neuen Lebensabschnitts.

Die Sierra Maestra erstreckt sich über eine Länge von 250 Kilometern von der Guantánamo-Bucht im Osten bis nach Cabo Cruz im Westen. In diese unzugängliche Bergregion hatte sich Fidel Castro 1956 nach der Landung mit dem Motorboot „Granma“ zurückgezogen, um einen Guerillakampf gegen das Regime des Diktators Batista zu beginnen. Von den 82 heldenhaften Besatzungsmitgliedern des in Mexiko gestarteten, völlig überladenen Bootes sollten nach der Landung nur 12 überleben, unter ihnen neben Fidel auch sein Bruder Raúl und der junge Ché Guevara.

Dass die Sierra Maestra das Kerngebiet des Umsturzes war, kam nicht von ungefähr: Es war die Region, wo die sozialen Probleme Kubas am deutlichsten zutage traten. Hier lebten schätzungsweise 50.000 Bauern in ärmlichen Verhältnissen – fast die Hälfte von ihnen waren precaristas, Landbesetzer, die häufig ein Leben als Outlaws und Banditen führten. So war es nicht verwunderlich, dass sich die Mehrheit der precaristas im Kampf gegen die Zuckerlatifundienbesitzer bald Fidel Castro und seinen Gefährten anschlossen.

Zunächst besichtigen wir die ehrwürdige Comandancia de la Plata, wo uns die von den Revolutionären hinterlassenen Objekte wie Reliquien präsentiert werden. Fotografieren ist an diesem heiligen Ort natürlich strengstens verboten. In der einstigen Holzbaracke des späteren Máximo Líder steht bis heute ein rustikales Holzbett. Unser Führer Hector versichert uns, dass Fidel allerdings nie darin geschlafen habe – angesichts seiner großen Aufgaben habe er Besseres zu tun gehabt.

In einer anderen Holzhütte finden wir einige technische Apparaturen vor – die Überreste von Radio Rebelde. Wir verstehen allmählich, welch genialer strategischer Schachzug es war, die Höhen der Sierra Maestra als Ausgangsbasis für den Sturz Batistas zu wählen: Von hier aus konnte man ungehindert kämpferische Botschaften über die ganze Insel senden. Laut Hector waren sie – nach anfänglichen technischen Schwierigkeiten – nicht nur bis in die Hauptstadt Havanna am anderen Ende Kubas zu hören, sondern sogar bis ins weit entfernte Venezuela.

Als wir am nächsten Tag am frühen Morgen mit Vierradjeeps bei einer Steigung von 55 Prozent auf 950 Meter Höhe gebracht werden, fühle ich mich ein bisschen wie ein Rebell im Geiste Ché Guevaras, einen Dreitagebart habe ich auch schon. Vom Alto de Naranja, wo unsere zweitägige Wanderung ihren Anfang nimmt, hat man eine großartige Sicht nach Norden bis zur Tiefebene der Provinz Granma. Der kehren wir nun aber den Rücken zu, weil wir zu Fuß in Richtung Südosten aufbrechen.

Obwohl wir überwiegend im Schatten laufen, dauert es nur wenige Minuten, bis sich meine Hautporen öffnen und der Schweiß in Strömen über meinen Rücken läuft. Mir macht das freilich nicht viel aus, da ich es als einen notwendigen Akt meiner körperlichen Reinigung ansehe. Und angesichts der üppigen Natur um mich herum vergesse ich all meine Beschwerden ohnehin schnell. Wir laufen durch herrlich grünen tropischen Regenwald, vorbei an wilden Orchideen, riesigen Farnen und Pinienwäldern. Wir haben Glück, dass es seit drei Tagen nicht geregnet hat, und der schmale Wanderpfad gut begehbar ist. Trotzdem ist der Weg hin und wieder so schlammig, dass man aufpassen muss, nicht auszurutschen. Dass das Grün hier so sprießt, auch wenn es einmal längere Zeit nicht regnet, ist den zumeist tief hängenden Wolken zu verdanken, die ausreichend Wasser spenden.

Doch je höher wir kommen, desto spärlicher wird die Vegetation. Seltsamerweise tragen hier viele Bäume keine Blätter mehr, obwohl wir die Baumgrenze noch nicht erreicht haben. Hector klärt uns auf: Durch den Hurrikan „Dennis“ im Jahre 2005 habe der Waldbestand schweren Schaden genommen, erzählt er, früher sei man die gesamte Wegstrecke im Schatten gelaufen. Davon, dass man nun gelegentlich der unbarmherzigen Sonne ausgesetzt ist, wollen wir uns nicht weiter stören lassen, denn wir haben heute eine Entfernung von lediglich acht Kilometern zu bewältigen; am Ende brauchen wir dafür jedoch fünf lange Stunden, weil wir dem Bergkamm folgen und es ständig auf und ab geht.

Am späten Nachmittag erreichen wir die Estación Biologica Aguada de Joaquín. So erschöpft, wie ich bin, lege ich mich schon kurz nach dem Dunkelwerden auf meine Pritsche, zumal wir am nächsten Morgen vor Sonnenaufgang aus dem Bett müssen. 16 Kilometer stehen am zweiten Tag vor uns, bis wir das Meer am Fuße der Sierra Maestra erreichen sollen. Der Pfad schlängelt sich über den Pico de Joaquín bis zum Alto de Regino – benannt sind die beiden Gipfel nach zwei Bauern, die einem schwedischen Botaniker zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg wiesen.

Dann müssen wir noch einmal schier endlose 300 Höhenmeter überwinden, bis wir gegen Mittag den Pico Turquino auf 1.972 Höhenmetern erreichen. Geschafft! So anstrengend hätte ich mir den Weg nicht vorgestellt. Wir machen eine längere Rast und bestaunen die auf der Bergspitze errichtete Statue des Nationalhelden José Martí. Viel von der Umgebung sehen können wir vom Gipfel aus allerdings nicht, denn der Pico Turquino wird – wie fast immer – auch heute von schweren Wolken verhüllt.

Von nun an geht es fast nur noch bergab. Ich laufe vornweg, wie von einer Tarantel gestochen. Was mich zur Eile antreibt, weiß ich auch nicht so genau. Aber irgendwie verspüre ich den dringlichen Wunsch, das Meer zu erreichen. Als ich einen ersten Blick auf die türkis schimmernde Karibische See erhaschen kann, jubele ich lauthals. Schließlich komme ich als Erster unserer Gruppe in der Siedlung Las Cuevas an, wo man mich bereits erwartet. Dass meine Waden schmerzen wie noch nie in meinem Leben, vergesse ich umgehend, als ich auf dem Tisch eine halb gefüllte Flasche Rum stehen sehe, köstlichen Añejo Blanco, drei Jahre alt. Neben der Rumflasche sitzt der Fahrer unseres Reisebusses und grinst mich mit glasigen Augen an. Ich setze mich zu ihm und schütte mir ein Glas ein. Warum auch nicht? Man lebt doch nur einmal, denke ich mir. Als die anderen ankommen, ist die Flasche leer.

Was danach geschah, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich soll ununterbrochen „Viva la revolución!“ gerufen und ausgelassen im Meer getobt haben. Als ich am nächsten Morgen aufwache, sind die anderen schon weg. Die Reisegruppe hat sich auf den Weg nach Santiago de Cuba gemacht. Also werfe ich mir meinen Seesack über die Schulter und laufe gut gelaunt, wenn auch mit etwas schweren Kopf, der aufgehenden Sonne entgegen. Mein Ziel ist die Ortschaft La Plata. Dort hatten die Guerilleros um Fidel im Januar 1957 ihren ersten erfolgreichen Angriff auf einen Militärstützpunkt Batistas unternommen. 23 Waffen wurden damals erbeutet. Damit war der erste Schritt getan, nur zwei Jahre später folgte der triunfo der Revolution.

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