: „Die soziale Barriere ist gefallen“
taz-Serie „Boom 2.0“ (Teil 5 und Schluss): Internetcommunitys zur Selbstdarstellung bieten eine soziale Entlastung, sagt der Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Denn viele Nutzer seien mit direkter Kommunikation überfordert. Virtuelle Beziehungen seien mehr als bloßer Ersatz für reale Kontakte
Interview Nina Apin
taz: Herr Bolz, das Web 2.0 wird auch gerne als „soziales Internet“ bezeichnet. Welche Bedürfnisse befriedigen virtuelle Gemeinschaften wie YouTube oder MySpace?
Norbert Bolz: Im Web 2.0. hat der Drang zur Selbstdarstellung sein erfüllendes Medium gefunden. Früher versuchte man, mit Piercings und blauen Haaren aufzufallen. Das wirkt nahezu unbeholfen, wenn man sich den medial perfektionierten Exhibitionismus in den neuen Communitys ansieht. Bei YouTube oder MySpace können Sie sich als Persönlichkeit neu erschaffen und Teil einer Gemeinschaft werden.
Den direkten Austausch in Chats und Communitys gab es vor Jahren schon. Nun sind Videos und Fotoblogs hinzugekommen. Macht das gleich eine neue Qualität aus?
Blogs, Bilder und Videos sind nur der erste Ausdruck einer strukturellen Revolution. Das Internet ist vom reinen Informations- zum radikaldemokratischen Darstellungsmedium geworden. Jeder kann auftreten, Autoritäten und Veröffentlichungsschranken fallen weg. Ein Menschheitstraum ist wahr geworden: Schon Bertolt Brecht träumte von einem Medium, das die Trennung zwischen Sender und Empfänger aufhebt. Das Radio konnte diese Hoffnung nie erfüllen, das Web 2.0. kann es jetzt.
Momentan scheint das „neue“ Internet hauptsächlich eine Spielwiese für gelangweilte Teenies, Einsame und Geltungssüchtige zu sein.
Natürlich hat es auch Nachteile, wenn jeder alles online stellen kann: Qualität und Anspruch gehen in der Publikationsflut unter. Aber das wird sich bald ändern. Mehr Wissenschaftler und Geschäftsleute werden das Netz für ihre Zwecke nutzen. Das Bedürfnis nach Einordnung und Gewichtung von Inhalten wird langfristig steigen. Trotzdem bestehe ich darauf, dass Communitys wie MySpace für sehr viele Menschen eine enorme soziale Entlastung darstellen.
Inwiefern?
Schüchterne und Gehemmte können im Netz ein soziales Leben aufbauen, auf das sie im wirklichen Leben keine Chance haben. Im Schutz ihrer Bildschirme können sie an einer virtuellen Gemeinschaft teilhaben, intime Gedanken austauschen, sich öffnen, auf andere zugehen.
Wenn im Web 2.0. nur picklige Klemmis unterwegs sind, woher kommen dann die ganzen attraktiven und lustigen Menschen in den YouTube-Videos?
Nicht jedem sieht man seine sozialen Defizite an. Ich behaupte, dass sogar die meisten Menschen mit direkter face-to-face-Kommunikation überfordert sind. Das merke ich an meinen Studenten. Seitdem es E-Mail gibt, werde ich von schriftlichen Anfragen überrannt. Der Ton ist informell bis aggressiv, Forderungen werden klar vorgetragen. Die soziale Barriere, die viele hinderte, mich direkt anzusprechen, ist gefallen. Das ist doch toll.
Aber das Spiel mit virtuellen Identitäten ist auch nicht ganz fair. Im Netz geben sich alle attraktiver und interessanter, als sie sind. Trifft man sich im wirklichen Leben, ist die Enttäuschung groß.
Stimmt, viele Internet-Identitäten sind weitaus spannender als die reale Person, die dahintersteckt. Bei sachlichen Internetbeziehungen ist das ja nicht schlimm, aber je emotionaler das virtuelle Verhältnis ist, desto größer ist die Gefahr der Entzauberung. Das ist wie mit den Brieffreundschaften früher, die haben den Realitätstest auch oft nicht überstanden.
Also sollte man lieber keinen Partner im Internet suchen …
… oder man sollte den Kontakt auf der virtuellen Ebene belassen und dort weiterpflegen. Das kann auch sehr bereichernd sein. Man sollte allmählich davon wegkommen, technisch vermittelte Kommunikation als bloßen Ersatz für reale Kontakte zu sehen. Virtuelle Beziehungen stellen durchaus einen Eigenwert dar. Um mit Kant zu sprechen: Wir sind Bürger zweier Welten. Allerdings nicht mehr der empirischen und der intelligiblen, sondern der realen und der virtuellen.
Ist man ohne Avatar und eigenen Blog also in Zukunft nur noch ein halber Mensch?
In Zukunft wird es zum Überleben gehören, zumindest über die Grundfunktionen im Netz Bescheid zu wissen. Aber solange das meiste Geld noch außerhalb des Internets verdient wird, können nur Leute mit viel Freizeit den halben Tag Videos produzieren, Blogs schreiben, chatten und spielen. Allen anderen fehlt dafür die Zeit, dafür muss man sich nicht schämen. Ich bin teilweise schon mit der Beantwortung meiner Mails überfordert.
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