: NRW will weniger Zwang in Psychiatrie
20.000 Zwangseinweisungen in psychiatrische Kliniken pro Jahr sind zu viel, findet die NRW-Landesregierung. Betroffene und Mediziner wollen eine humanere Behandlung durch Patientenverträge und mehr Kontrolle
DÜSSELDORF taz ■ Psychiatrie in Nordrhein-Westfalen soll sich verändern: Weniger Gewalt, weniger unfreiwillige Klinikaufenthalte und weniger Diskriminierung Erkrankter hat NRWs Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) Anfang vergangenen Jahres angekündigt. Wie seine Landesregierung das erreichen kann, diskutierte gestern der parlamentarische Gesundheitsausschuss mit mehr als 50 Sachverständigen aus Psychiatrie, Kommunen und Betroffenen-Initiativen.
Konkret soll die Zahl der Zwangseinweisungen in NRW gesenkt werden. Zur Zeit landen jährlich rund 20.000 Menschen in NRW unfreiwillig in einer psychiatrischen Klinik. „Die Zahl stagniert auf einem hohen Niveau“, sagt Michael Regus, Sozialmediziner an der Universität Siegen und Autor einer vom Land beauftragten Studie. Das seien zudem nur die Zahlen der Zwangseinweisungen nach dem NRW-Psychisch-Kranken-Gesetz. „Die Zwangseinweisungen nach dem Betreuungsrecht haben sich in einigen Regionen innerhalb eines Jahres um 40 Prozent erhöht“, so der Forscher im Ausschuss.
Ein Satz, der auf ein besonderes Problem in Nordrhein-Westfalen hinweist: In einigen Städten sind gerade einmal vier Prozent der Patienten unfreiwillig in einem psychiatrischen Krankenhaus, in anderen sind es 25 Prozent und mehr. „Ich als Bürgerin möchte nicht in einer Region mit 25 Prozent Zwangsrisiko leben“, sagte Magret Osterfeld, die als Psychiaterin arbeitet, aber als Patientin selbst psychiatrischen Zwang erlebt hat. „Sie gefährdet sich durch Chronifizierung“, liest sie dem Gesundheitsausschuss aus der Begründung ihrer Zwangseinweisung zu. „Demnach müsste auch ein Diabetiker, der Torte isst, in ein Krankenhaus eingeschlossen werden.“
Sie fordert deshalb, Einweisungsentscheidungen stärker zu kontrollieren. Auch die Betroffenen-Verbände kritisierten die Einweisungs- und die Behandlungspraxis. Im bundesweit geltenden Betreuungsrecht reicht eine Entscheidung „zum Wohl“ des Betroffenen für einen unfreiwilligen Psychiatrieaufenthalt. „Der ist dann auch mit unfreiwilligen Medikamenteneinnahme verbunden“, sagt Matthias Seibt vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener. „Ich nenne das Folter.“
Ganz auf Zwang in der Psychiatrie verzichten könne man nicht, waren sich dagegen die eingeladenen Mediziner einig. „Es wird immer Fälle geben, in denen eine Einweisung Leben rettet“, sagt Wolfgang Gaebel von den Rheinischen Kliniken Düsseldorf. Das Konzept der offenen Türen, wie es vor allem in der Gemeindepsychiatrie praktiziert wird, trage jedoch dazu bei, Gewalt zu verringern. „Eine Studie, die das belegt, gibt es aber leider noch nicht.“ In der offenen Psychiatrie wird bewusst auf Zwang verzichtet, sämtliche Behandlungsschritte mit den Patienten abgestimmt, oft auch schriftlich vereinbart.
Die beiden Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen, die die meisten psychiatrischen Kliniken betreiben, wollen Kliniken mit vielen Zwangseinweisungen künftig noch mehr Beratungsangebote machen, so die Verbands-VertreterInnen. Diskutiert wurden auch kommunale Krisenhilfen, in denen Psychiater und Sozialarbeiter in Notfallsituationen eingreifen – und möglicherweise auch andere Lösungen als einen Klinikaufenthalt finden. MIRIAM BUNJES
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