: Von Ninive aus soll Erlösung kommen
In den Kämpfen im Irak geraten die Christen ins Kreuzfeuer. Der Schriftsteller Giurgis Khalilsadeh propagiert eine autonome christliche Region, anknüpfend ans Reich der Assyrer
Ginge es nach dem assyrisch-irakischen Schriftsteller Giurgis Khalilsadeh, bräuchten die geschätzten 1,9 Millionen Christen des Irak lediglich innerhalb eines eigenen Territoriums zusammenzurücken, um den ersehnten Frieden zu erlangen. Die sich zu einem eigenen Staat profilierende Autonome Region Kurdistan, auf deren Territorium die Christen zusammenkommen sollen, ist denn auch bereit, den Assyrern und den übrigen irakischen Christen weitgehende Autonomie zu gewähren, wie der Vizeregierungschef der kurdischen Regionalregierung, Girgis al Khani, kürzlich zusicherte.
Zwischen allen Regionen zerstreut, geraten die Christen im Irak zwischen die Fronten der interkonfessionellen Kämpfe zwischen Schiiten und Sunniten. Seit den antiislamischen Zitationen Papst Benedikts im September sehen sie sich dem Zorn beider Seiten ausgesetzt. Eine offizielle Distanzierung der irakischen Kirchen von der Papstrede, verbunden mit der Reduzierung aller sichtbaren christlichen Aktivitäten im Lande, wie etwa Gottesdienstbesuche oder das Glockenläuten, hat nicht geholfen – viele Kirchen wurden Ziel von Anschlägen, wie die St.-Marien-Kathedrale in Bagdad, die durch eine Autobombe beinahe zerstört wurde. Andere christliche Einrichtungen, wie Schulen und Erste-Hilfe-Stationen, erlitten dasselbe Schicksal. Entführung und Ermordung christlicher Geistlicher gehören zur Tagesordnung. „Wir werden zum Sündenbock gemacht“, sagt Vater Sayya, Oberhaupt einer kleinen assyrischen Gemeinde, „uns bleibt nur die Flucht, um unser Leben zu retten.“
Es ist nicht das erste Mal, dass irakische Christen aus dem Land fliehen. Schon zu Beginn des ersten Golfkrieges 1991 kamen erste Flüchtlingsströme in den Nachbarländern an. Der große Exodus setzte jedoch nach der US-Invasion im Frühjahr 2003 ein. Die Zahl der christlichen Flüchtlinge in Syrien, Jordanien und dem Libanon wird inzwischen auf 150.000 bis 200.000 geschätzt.
Die Angehörigen der ständig schrumpfenden christlichen Gemeinden sind die Nachkommen des mächtigen assyrischen Reiches, zu dem um 1200 vor Christus der gesamte Nahe Osten gehörte. Es waren Assyrer, die später die ersten christlichen Gemeinden überhaupt gründeten. Selbst in der Hochblüte des Islam war es ihnen erlaubt, ihre Religion ungehindert auszuüben, und auch nach der Gründung des Irak 1926 wurde der Alltag von Assyrern und den übrigen Christen im Irak nicht beeinträchtigt. Bis in die 80er-Jahre war ihre Lage zufriedenstellend. Die wenigen Umsiedlungen irakischer Christen im Norden des Landes unter Saddam Hussein wurden ausreichend finanziell entschädigt. Zudem waren Assyrer in hohen Regierungsämtern – der Außenminister Husseins, Tarik Assis, war einer von ihnen.
Heute finde man kaum noch christliches Leben im Irak, beklagt sich ein nach Berlin geflüchteter Assyrer. Angesichts dieser Lage kommt das Angebot der kurdischen Autonomieregierung, die altangestammten Siedlungsgebiete im Norden um das Dreiländereck (Syrien, Türkei, Iran) wieder einzurichten, einer Erlösung gleich. Und tatsächlich hat im Gebiet um die Stadt Irbil, 470 Kilometer nördlich von Bagdad, der Wiederaufbau von Häusern begonnen.
Die Stadt Irbil selbst erlebt seither einen wahren Wirtschaftsboom. Geldgeber, Investoren und Projektentwickler werben für ihre Vorhaben: „Unser Ziel ist es“, schreibt der Schriftsteller Giurgis Khalilsadeh, „alle Christen des Irak hier zusammenzubringen. Eine autonome christliche Region wird immer mehr Wirklichkeit. Mit Ninive als Hauptstadt werden wir an das alte Assyrerreich anknüpfen und unsere kulturelle Botschaft in die Welt tragen.“
Die Bemühungen der Assyrer, im Irak mit Hilfe der Kurden ein eigenes autonomes Gebiet zu schaffen, versprechen keineswegs Frieden. Denn zu den innerkurdischen Zwistigkeiten, bei denen die Assyrer mal mit dem einen und mal mit dem anderen Clan paktierten, kommt der Zusammenprall des assyrischen und des kurdischen Nationalismus, der viel Sprengkraft birgt.
Außerdem wird sich der in Chaos und Bürgerkrieg niedersinkende irakische Staat schwertun, ein selbständiges Assyrien anzuerkennen. Der US-amerikanische Plan eines nach religiösen und ethnischen Minderheiten aufgeteilten Nahen Ostens hat den Ländern der Region viel Blut und Unheil beschert. Dies war im Libanon von 1975 bis 1990 zu sehen und jetzt eben im Irak. Vielleicht deswegen, weil die Homogenität der Tradition und Lebensweise immer noch stärker ist als der Drang zur Abkapselung, gerade wenn fremde Mächte solche Tendenzen unterstützen. JACQUES NAOUM
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