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Archiv-Artikel

„Eine faire Globalisierung nutzt fast allen“

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz plädiert für weniger Markt und mehr Politik, um den globalen Handel gerechter zu gestalten. Und hofft, dass Hugo Chávez und Evo Morales nachhaltige ökonomische Verbesserungen gelingen

taz: Herr Stiglitz, macht die Globalisierung die Welt besser oder schlechter?

Joseph Stiglitz: Zumindest hat sich einiges positiv verändert. Gerade wurde vom Weltwährungsfonds (IMF) beschlossen, dass arme Länder mehr Stimmrechte erhalten. Das ist nicht genug. Aber es ist ein Anfang.

Sonst noch etwas?

Die Debatte über globale Instabilitäten hat begonnen. Der IMF soll die Entwicklungsländer nicht regieren, ihnen nicht vorschreiben, was sie zu tun haben. Er soll die internationalen Finanzmärkte stabilisieren, nicht destabilisieren. Was heute im IMF diskutiert wird, geht in die richtige Richtung. Dasselbe gilt für das Welthandelssystem: Es wird allgemein zugegeben, dass vorangegangene WTO-Runden unfair waren. Das ist positiv. Dass nichts getan wird, ist negativ.

Sie schlagen in Ihrem Buch „Chancen der Globalisierung“ grundlegende institutionelle Reformen vor – z. B. einen internationalen Gerichtshof, der strittige Handelsfragen entscheidet. Ist das realistisch?

Da picken Sie sich aber die ambitionierteste Idee heraus. Aber das Problem ist real. Internationale Handelsdifferenzen werden häufiger. Deshalb wächst das Bewusstsein, dass das gegenwärtige System schlecht funktioniert. Oft ist die größte Wirtschaftsmacht, die USA, Ankläger, Sachverständiger und Richter zugleich. Der Druck, dass fairere Verfahren eingeführt werden, wächst.

Sie meinen, der Staat solle für Investitionen, industrielle Entwicklung, sogar das Kreditwesen verantwortlich sein, weil es in Entwicklungsländern an Kapital für Unternehmen fehlt. Warum können die Märkte diese Aufgaben nicht erfüllen?

Ich bin keine Anhänger des alten „Big Government“. Auch ein schlanker Staatsapparat kann das Notwendige tun. Wir brauchen eher eine andere Art von Regierungspolitik. Wir wissen heute, wo Märkte funktionieren und wo nicht. Märkte produzieren in manchem zu viel, wie etwa in Umweltverschmutzung, und in manchem zu wenig, etwa der Grundlagenforschung. Märkte sind nicht gerecht. Man hat behauptet, sie seien effizient. Heute wissen wir, dass sie nicht einmal das immer sind.

Herr Stiglitz, Sie sind vielleicht der einflussreichste lebende Ökonom, nachdem Milton Friedman kürzlich gestorben ist. Wie beurteilen Sie sein Vermächtnis?

Er hat einen enormen Einfluss und hervorragende analytische Arbeit geleistet. Aber bedeutend wurde er, weil er den Glauben verbreitete, dass Märkte gut, Regierungen schlecht seien. Das ist einfach nicht wahr. Und er hat einige problematische Ideen in die Welt gebracht. Seine Theorie, dass Konsumausgaben von langfristigem Einkommen abhängig sind, hat zu der Annahme geführt, dass Menschen, wenn sie zeitweise mehr Geld zur Verfügung haben, nicht mehr ausgeben würden. Heute wissen wir, dass das für Geringverdiener einfach nicht stimmt.

Das Kernparadigma der klassischen Ökonomie ist, dass alle bessere Resultate haben, wenn jeder seinen Eigennutz verfolgt. Was ist daran falsch?

Gegenfrage: Was haben denn all die Manager in den Neunzigerjahren getan, die grandiose Skandale zu verantworten hatten? Sie haben ihr Eigeninteresse verfolgt – der Allgemeinheit hat dies nicht genutzt. Eigennutz und Gewinnstreben sind gewaltige Kräfte. Doch wo sie negative Folgen haben, müssen wir steuernd eingreifen. Es gibt leider verdammt viele solche Felder.

Sie versuchen zu zeigen, dass die internationale Wirtschaftsarchitektur die reichen Staaten begünstigt und den armen schadet. Ist wirklich nur der Westen schuld, dass es Afrika oder die arabischen Staaten nicht schaffen?

Geteilte Schuld. Wir machen es diesen Ländern mit einer unfairen Handelsordnung unnötig schwer. 70 Prozent der Menschen in den Entwicklungsländern leben in der Landwirtschaft. Wir subventionieren Agrarexporte und reduzieren damit ihr Einkommen.

Warum haben es dann asiatischen Länder geschafft?

Sie haben es trotz dieses unfairen Systems geschafft – und sind den Ratschlägen des IMF nicht gefolgt. Sie haben ihren eigenen Weg gesucht. Hinzu kommt: Die afrikanischen Länder haben eine schlimme Kolonialgeschichte, die lange nachwirkt. Außerdem sind sie ressourcenreiche Länder und stehen in Banne dessen, was man den „Ressourcenfluch“ nennt. Sie sind interessant für multinationale Konzerne, die ihre Regierungen bestechen, autoritären Herrschern viel Geld geben, womit die sich Waffen kaufen. Diese Art von Reichtum produziert oft Armut. Aber ehrlich gesagt: Wer schuld ist, interessiert mich nicht. Mich interessiert: Was können wir besser machen? Wir können viel tun, was Entwicklungsländern hilft – und uns auch. Fairness nützt allen.

Wirklich? Mehr Zugang zum Weltmarkt der ärmeren Länder schadet oft den Armen in den reichen Ländern. Ist das nicht der Grund für die Antiglobalisierungsstimmung im Westen?

Nehmen wir nur die Baumwollsubventionen der USA. Was passiert, wenn man die streicht? Die Steuerzahler haben nur Vorteile, die Konsumenten auch …

Die Farmer aber nicht!

Es gibt 25.000 meist wohlhabende Baumwollfarmer in den USA. Die US-Steuerzahler finanzieren also Sozialhilfe für reiche Leute!

Sie selbst schreiben doch, dass mehr Fairness zu höheren Einkommen in der Dritten Welt und niedrigeren bei gering qualifizierten Arbeitern im Westen führen würde …

Ich leugne gar nicht, dass heute Jobs in China und Indien entstehen und Jobs in den USA und Europa vernichtet werden. Aber es ist nicht notwendigerweise so, dass mehr Jobs auswandern, als in den fortgeschrittenen Ländern geschaffen werden – vorausgesetzt, wir machen eine kluge Politik.

Es kann eine Win-win-Situation geben?

Davon bin ich überzeugt. Voraussetzung ist freilich, dass wir mehr in Bildung, mehr in Arbeitsmarktpolitik investieren und dass wir ein progressiveres Steuersystem einführen.

Was halten Sie von den Reformen von Hugo Chávez in Venezuela und Evo Morales in Bolivien. Ist deren Politik wirklich ein Modell?

Zunächst: Es ist überhaupt nicht überraschend, dass sie gewählt wurden – das alte System war ein Desaster in Lateinamerika. In Bolivien wurde in der Regierung nicht mal die Sprache gesprochen, die die Mehrheit im Land spricht. Die Indios konnten nicht in ihrer Sprache mit der Regierung kommunizieren. Dass nun ein Indio Präsident wurde, ist ein Triumph für die Demokratie.

Deswegen muss diese Regierung noch kein Modell sein …

Die Verträge, die Bolivien mit internationalen Gaskonzernen geschlossen hat, waren unfassbar unfair. Jeder weiß das. Die Regierung hat nun gesagt: Bodenschätze sind Nationaleigentum. Die Schürfrechte verhandeln wir neu. Sie haben die Konzerne nicht rausgeworfen. Das ist vernünftig.

Auch, wie der Reichtum eingesetzt wird?

Man wird sehen. Chávez setzt die Öleinnahmen ein, um ein Bildungs- und Gesundheitssystem in den Barrios, den Armenvierteln, einzuführen. So etwas gab es bisher nicht. Das ist eine Investition in die Menschen. Ist das ein Fortschritt? Selbstverständlich. Wird ein Erfolg daraus, nachhaltiges Wirtschaftswachstum? Hoffentlich!

INTERVIEW: ROBERT MISIK