nobel, reaktionen etc.: Wir sind das Land Orhan Pamuks
Am deutlichsten ist die linke Tageszeitung Bir Gün: „Vielen Dank, Orhan Pamuk“, steht in großen Lettern auf der Titelseite und bezieht sich indirekt auch auf das, was Pamuk selbst in einem ersten Statement nach Bekanntgabe des Preises gesagt hatte: Damit wird auch die türkische Kultur und Literatur insgesamt geehrt. Alle anderen Zeitungen behelfen sich damit, entweder ausschließlich darauf hinzuweisen, dass erstmals ein Türke den weltweit wichtigsten Literaturpreis erhält, oder sie machen auf human interest wie: „Als Erstes hat mich meine Tochter angerufen.“
Während die linke und linksliberale Presse aus ganzem Herzen jubelt, dürfte der Kommentar der größten und politisch wirksamsten Zeitung Hürriyet die Stimmungslage im Land am ehesten auf den Punkt bringen. Im Konjunktiv schreibt sie: „Wir sollten stolz sein auf die Auszeichnung für Orhan Pamuk. Viele Menschen weltweit werden nun seine Bücher lesen und damit mehr über uns und unsere Kultur erfahren.“ Aber Hürriyet formuliert auch eine Erwartung, die sicher ebenfalls von vielen Menschen geteilt wird. Pamuk, fordert die Zeitung, solle doch nun auch nach Paris gehen und sagen: „Seht her, ich habe gesagt, dass eine Million Armenier umgebracht wurden, und ich bin nicht eingesperrt worden.“
Die offizielle Politik hält sich mit Stellungnahmen zurück oder begnügt sich mit den üblichen Floskeln. Außenminister Gül sagte pflichtgemäß, wie stolz das Land sei, dass einer der Seinen den prestigeträchtigsten Literaturpreis erhalten habe, und wie sehr die türkische Literatur weltweit dadurch gefördert werde. Aber aus diesen Worten spricht nicht nur die Distanz der Politik zur Kultur, sondern auch das zwiespältige Verhältnis zum Preisträger.
Insgesamt hat die Preisverleihung an Orhan Pamuk aber doch bereits eine erstaunliche Wirkung entfaltet. Das für heute erwartete Geschrei über die Entscheidung des französischen Parlaments, die Leugnung des armenischen Völkermordes unter Strafe zu stellen, fällt vielfach gedämpfter aus. Die Nachricht aus Stockholm kam just zu dem Zeitpunkt, als der Mund zum Schrei der Empörung schon geöffnet war. Der Chefredakteur der linksliberalen Radikal, Ismet Berkhan, formulierte es so: „Nur eine Stunde nach der verdrießlichen Nachricht aus Paris kam die gute Nachricht aus Stockholm. Vergesst den französischen Unsinn, wir können uns mit Pamuk rühmen. Die Türkei wird in der Welt zukünftig auch als das Land Orhan Pamuks angesehen werden.“
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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