piwik no script img

Sarahs blaue Augen

Antisemitismus war in der Türkei lange Zeit eine Randerscheinung. Doch in islamistischen und nationalistischen Milieus florieren mittlerweile auch antisemitische Verschwörungstheorien – und finden von dort ihren Weg bis nach Deutschland

Noch stützt sich der türkische Antisemitismus in erster Linie auf die einschlägigen Schriften aus Europa

Von DANIEL BAX und MICHAEL KIEFER

Als der türkische Film „Tal der Wölfe“ im Januar hierzulande in die Kinos und ins Gerede kam, sorgte vor allem sein unverhohlen antisemitischer Subtext für Irritationen. In der Nebenfigur des jüdischen Arztes, der irakischen Opfern die Nieren entnimmt, um sie an Kunden in New York, London und Tel Aviv zu verkaufen, zeichnete er eine solch plumpe Karikatur des raffgierigen Juden, der über Leichen geht, wie man sie vielleicht in einem Nazi-Propagandafilm, aber kaum in einem türkischen Mainstream-Kassenschlager erwartet hätte.

Dabei galt die Türkei bislang als ein Land, das relativ frei von Antisemitismus zu sein schien. In diese Kerbe schlugen auch die beiden Drehbuchautoren Raci Sazmaz und Bahadir Özdener, als sie bei ihrer Pressekonferenz in Berlin alle Vorwürfe weit von sich wiesen und das traditionell gute Zusammenleben von Türken und Juden in der Türkei betonten.

Damit spiegelten sie die öffentliche Wahrnehmung in der Türkei, die sich ihrem Selbstbild nach sogar als ausgesprochen judenfreundlich begreift. Tatsächlich bildete der Antisemitismus im Osmanischen Reich wie in der modernen Türkei die meiste Zeit bloß eine Randerscheinung. Während die Juden in Europa Pogrome und Rechtlosigkeit erdulden mussten, bot der osmanische Sultan vor fünfhundert Jahren den sephardischen Juden Zuflucht, die nach der katholischen Rückeroberung aus Spanien vertrieben wurden. Auf diese Einwanderung geht bis heute die jüdische Minderheit in der Türkei zurück. Im Zweiten Weltkrieg verhielt sich die aus den Trümmern des Osmanischen Reichs hervorgegangene Republik weitgehend neutral und gewährte Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland Asyl, darunter dem Komponisten Paul Hindemith, dem Architekten Bruno Taut und dem späteren SPD Bürgermeister von Berlin, Ernst Reuter. Und bis heute pflegt die Türkei eine enge Zusammenarbeit mit Israel, vor allem im militärischen Bereich.

Es wäre verwunderlich, wenn der bisweilen übersteigerte türkische Nationalismus, der sich von inneren und äußeren Feinden umstellt wähnt, ausgerechnet vor den Juden, dem Feindbild aller Nationalismen, Halt gemacht hätte. So kam es etwa in den Vierzigerjahren in Thrakien, dem europäischen Zipfel der Türkei, auch zu antijüdischen Ausschreitungen, doch dies blieb die Ausnahme. In den letzten Jahren aber haben antisemitische Publikationen in der Türkei in gewissen Kreisen eine unheimliche Konjunktur bekommen: Während türkische Übersetzungen der „Protokolle der Weisen von Zion“ vor allem unter Islamisten Verbreitung finden, erfreut sich Hitlers „Mein Kampf“ – auf Türkisch „Kavgam“ – bei nationalistisch gesinnten Jugendlichen, die sich zu Gruppierungen wie den Grauen Wölfen hingezogen fühlen, großer Beliebtheit.

Der neueste Renner sind Bücher, die vor einer Unterwanderung der Türkei durch die so genannten Dönme warnen. Mit Dönme werden die Anhänger des ehemaligen Rabbiners von Izmir, Sabbatai Zwi, und deren Nachfahren bezeichnet. Dieser hatte sich vor über 300 Jahren zum neuen Messias erklärt und damit Juden aus ganz Europa angelockt. Doch als er im Jahre 1666 verhaftet und vom Sultan zum Tode verurteilt wurde, traten er und seine Gefolgsleute zum Islam über.

In die jüdische Geschichte ging Sabbatai Zwi als „falscher Messias“ ein. Die Nachfahren seiner Anhänger aber wurden noch in der modernen Türkei als Kryptojuden misstrauisch beäugt und angefeindet, weil sie bestimmte jüdische Rituale und Gewohnheiten beibehalten haben sollen. Tatsächlich sind Nachfahren dieser Dönme unter engagierten Publizisten, liberalen Politikern und linken Journalisten stark vertreten gewesen. Von ihren Gegnern wurde ihnen deshalb immer wieder unterstellt, sie hätten eine geheime Agenda, trügen Verschwörungsabsichten oder stünden im Dienste des israelischen Staates. Selbst der Republikgründer Atatürk, dessen Geburtsstadt Saloniki einst eine Hochburg der Dönme gewesen sein soll, bleibt von solchen Anwürfen nicht verschont. Ein Klüngel aus Freimaurern und Konvertiten habe ihn geleitet, als er das Kalifat abgeschafft und die moderne, säkulare Türkei gegründet habe, behaupten radikale Islamisten.

Lange Zeit waren solche wirren Fantasien allenfalls an den radikalislamischen oder ultranationalistischen Rändern des politischen Spektrums zu finden. Doch auch die nationalistische Linke zeigte sich dafür anfällig. Der Boom entsprechender Publikationen hat dazu geführt, dass deren krude Thesen in den Mainstream einsickern. So behauptet der ehemalige Linksradikale und heutige Professor Yalcin Kücük, die Umtriebe prominenter Dönme aufzudecken, und nennt dabei auch Namen. Der aktuelle türkische Außenminister Abdullah Gül nahm die Vorwürfe immerhin so ernst, dass er sie öffentlich dementieren ließ. Und auch der Populärhistoriker Soner Yalcin führt in seinen pseudowissenschaftlichen Werken die Verdrängung des Islams sowie die proisraelische Außenpolitik der Türkei auf den Einfluss von Sabbataisten zurück. Yalcin fungierte dem „Tal der Wölfe“-Team übrigens als Berater.

In Teilen der türkischen Bevölkerung wachsen solche Verschwörungstheorien offenbar auf fruchtbarem Boden. Das liegt auch an einer tief greifenden Verunsicherung durch die wirtschaftlichen und weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre sowie die schwierigen Beitrittsverhandlungen mit der EU, die am eigenen Selbstverständnis nagen. Paradoxerweise ist es gerade die Liberalisierung, die den nationalistischen Kräften in der Türkei Auftrieb gibt.

Dabei ist der Antisemitismus in der Türkei in erster Linie ein europäischer Import – was sich schon daran erkennen lässt, dass er sich vor allem auf Übersetzungen einschlägiger Schriften aus Europa stützt. Er ist auch weitgehend ein „Antisemitismus ohne Juden“, da er sich nicht direkt gegen die zahlenmäßig ohnehin kleine Minderheit der Juden in der Türkei richtet, sondern eher gegen imaginierte äußere Feinde. Seine Folgen können dennoch tödlich sein: Das zeigte sich nicht erst durch die brutalen Selbstmordanschläge auf zwei Synagogen in Istanbul am 15. November 2003, denen 57 Menschen zum Opfer fielen. Schon früher war die im Stadtteil Beyoglu gelegene Neve-Schalom-Synagoge als größtes jüdisches Gotteshaus der Türkei Ziel von Anschlägen gewesen. Und Mitte der Neunzigerjahre, als die innenpolitische Gewalt in der Türkei eskalierte, gab es auch Attentate auf jüdische Geschäftsleute und Intellektuelle.

Dennoch ist Antisemitismus in der Türkei kein Thema öffentlicher Debatten und war es selbst nach den blutigen Attentaten auf die Synagogen in Istanbul nicht. Erst in jüngster Zeit haben türkische Intellektuelle, etwa in der sozialistischen Zeitschrift Birikim oder im liberalen Intelligenzblatt Radikal, auf das Problem aufmerksam gemacht. Inzwischen ist das Phänomen aber auch nicht mehr zu übersehen.

Von einer neuen Qualität kündete etwa die TV-Serie „Sahras blaue Augen“, die im Sommer 2005 im Abendprogramm des islamistischen Fernsehsenders TV 5 ausgestrahlt wurde. Die siebenteilige Reihe spielt im israelisch besetzten Westjordanland und erzählt die fiktive Geschichte des israelischen Generals Yitzhak Cohen, der für seinen an den Rollstuhl gefesselten und erblindeten Sohn Theodor dringend ein neues Augenpaar benötigt. Israelische Soldaten, die sich als UN-Mitarbeiter verkleidet haben, besuchen daraufhin eine palästinensische Schule. Unter dem Vorwand, die Kinder auf Augenkrankheiten zu untersuchen, wird die kleine Zahra in der letzten Folge ihrem Großvater entrissen und ins Krankenhaus gebracht, wo ihr die Augen entnommen und dem kranken Theodor eingepflanzt werden. Als ihr Bruder von dem grausamen Organraub erfährt, beschließt er, ein Selbstmordattentat zu verüben.

Man könnte das als degoutanten Horrortrash abtun, wäre die propagandistische Absicht nicht so offensichtlich. Denn Israel und den Juden wird hier ein kranker und parasitärer Charakter angedichtet, dessen Überleben nur durch die Ausbeutung einer intakten und gesunden Gemeinschaft – in diesem Fall der Palästinenser – gesichert werden kann. Bezeichnenderweise wurde die Serie vom iranischen Fernsehsender Sahar 1 produziert. Der türkische Kanal TV 5, der dem Islamistenführer Necmettin Erbakan nahe steht und sich durch seine streng religiöse Ausrichtung von anderen Programmen in der Türkei abhebt, hat die Serie auf Türkisch übersetzt; und über Satellit kann man diesen Sender auch in Europa empfangen.

Inzwischen wird „Filistinli Zehranin Gözleri“, so der türkische Titel, auch auf DVD vertrieben. Beim türkischen Internetportal ankebut.net kann man den kompletten Film sogar kostenlos downloaden. Dort erfährt der Interessent auch, wie die Serie von der bisherigen Kundschaft beurteilt wurde: Unter den mehr als 100 Mails aus Deutschland, Frankreich, Holland und anderen europäischen Ländern überwiegt große Zustimmung.

Erst vorige Woche wurde publik, dass die DVDs von „Sahras blaue Augen“ auch auf einer Buchmesse auf dem Gelände einer Moschee in Berlin-Kreuzberg angeboten wurden, neben anderen antisemitischen und islamistischen Publikationen. Das zeigt, dass der türkische Antisemitismus längst nicht mehr nur in der Türkei ein Problem ist. Zwar ließen die Veranstalter der Buchmesse, die zum Umkreis der fundamentalistischen Milli Görüs gehören, das inkriminierte Material sofort entfernen. Doch man sollte sich keine Illusionen darüber machen, welche Verbreitung es dennoch finden dürfte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass solch offener Antisemitismus unter türkischen Migranten viel freier zirkulieren kann, als dies unter deutschen Neonazis möglich wäre. Für die deutsche Polizei, aber auch für hiesige Bildungsinstitutionen und Lehrer an deutschen Schulen ist das eine Herausforderung, auf die sie noch nicht so recht vorbereitet scheinen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen