: Stumme Worte
Heute vor zehn Jahren starb der Dichter und Dramatiker Heiner Müller. Was vor allem an ihn erinnert: die öffentliche Person Heiner Müller, hinter der Texte und Werk zunehmend zu verschwinden drohen
VON JÖRG SUNDERMEIER
Was bleibt? Ein Autor kann die Interpretationshoheit über sein Werk nicht mit ins Grab nehmen, und schon vorher wird ihm diese oft abgestritten. Der Text ist schlauer als der Autor, wusste der fleißige Leser Heiner Müller, der versuchte, die Interpretationshoheit schon zu Lebzeiten abzugeben, indem er seine Texte als Material kennzeichnete. Als Regisseur und Zitator seiner selbst eignete er sie sich jedoch gleich wieder an. Wenn sich Müller nach seiner Krebsoperation 1994 fragte, wozu er weiterleben solle, „für ein Kind eine Frau ein Spätwerk“, so ist es die Frage eines Dichters in der Krise.
Heiner Müller hatte fünf Jahre zuvor nicht nur seinen Schreibort, sondern auch den Rezeptionsort verloren. Sein Thema war Deutschland, das er, „wenn ich meine Privilegien genieße“, von beiden Seiten gesehen hatte, und dessen Westteil er weniger leidenschaftlich hasste als die DDR. Weil er ihm unversöhnlich gegenüberstand. Müller verspürte wenig Lust, dem Untergang der DDR als Chronist zuzuschauen, er zog sich als Autor zurück. Der Öffentlichkeit blieb der Intendant und Akademiepräsident, der Regisseur und der Interviewpartner, der sich Alexander Kluges Fragen ebenso überließ, wie er sich Alfred Biolek hingab. Nebenbei prägte er die Brillenmode einer Intellektuellengeneration.
Ihn trieb dabei nicht nur der „Hunger nach Beifall“, wie es Brigitte Maria Mayer, seine letzte Gattin, nennt. Vielmehr versuchte Müller – instinktiv oder bewusst – seine Texte vor Missverständnissen zu schützen, indem er sie mit sich selbst verstellte. Größere Texte aus den letzten Jahren jedenfalls reichen an die Güte voriger Texte nicht heran. „Germania 3“, das letzte Stück, wirkt zerfasert und unkonzentriert, ein Copyrightstreit mit den Brecht-Erben tat sein Übriges, so dass das Stück keine nennenswerte Theaterwirkung entfalten konnte. Heute ist es, eingebannt in eine Werkausgabe, zu einem kaum noch spielbaren Klassiker geworden. Über seine Selbstauskunft „Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie“, die soeben merkwürdigerweise unter dem Titel „Eine Autobiographie“ neu erschienen ist, sagte Müller selbst, dass er sie „in der mir zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu Literatur machen konnte“.
Der Text „Mommsens Block“ dagegen, der an seinen besten Stellen noch einmal Müllers Talent zur Verdichtung und Kontrastierung bewies, blieb weitgehend unbeachtet, auch die Germanistik tut ihn als Nebenwerk ab. Dabei zeigt gerade dieser Text, wie sehr Müller nach 1990 von seinem Thema verfolgt wurde. Die Theodor-Mommsen-Büste, die nach dem Mauerfall wieder vor der Humboldt-Universität aufgestellt wurde, auf jenem Sockel, der die DDR über eine Karl-Marx-Büste trug, wurde für Müller Sinnbild für das, was Deutschland nach 1990 umtrieb. In den Gedichten schließlich findet sich immer wieder Abscheu angesichts des kapitalistischen Alltags, zu dem es keine Alternative mehr gibt. Eine Zuflucht sucht Müller nicht. Kuba etwa bleibt ihm unheimlich: „d. letzte Geisterschiff / der Revolution bemannt mit vergessenen Toten.“ Als Heiner Müller vor zehn Jahren starb, trauerte das Berliner Ensemble eine ganze Woche lang, Devotionalien wurden ihm ans Ehrengrab gebracht, die Nachrufe waren unzählbar. Heute aber bleiben seine Texte stumm. Was nicht nur an der Entscheidung liegt, Müllers Texte in eine kommentierte Werkausgabe zu bannen, die der von ihm selbst verantworteten, an den Brecht’schen „Versuchen“ orientierten Materialausgabe im Rotbuch Verlag den Garaus machte.
Vor allem fehlen den Texten Müllers die Leserinnen und Leser. Der Humor, der sich etwa in Müllers Forderung Bahn bricht, ein Kohl-Mausoleum solle Denkmal der Einheit werden, ist aus der Mode. Bonmots wie „Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche“ wird heute schnell widersprochen. Das Drama des Sozialismus, das Müller wie keiner vor oder nach ihm beschreibt, schert niemanden. Die Idee „Keiner oder alle“, also jener Humanismus, der tötet, gilt als Sache von gestern.
Den wenigen organisierten Sozialistinnen und Sozialisten, die in dümmlicher Verehrung Peter Hacks folgen, der sagte, Müller sei ein Agent der Romantik, kann Müller nichts mehr mitteilen. Denjenigen, die Oskar Lafontaine verehren, fehlt jeder Begriff vom Sozialismus. Die Globalisierungsgegnerinnen und -gegner, denen Müllers oft blindwütiger Kapitalismushass gefallen müsste, tun sich mit Müllers Intellektualität schwer.
Das Theater, von wenigen Inszenierungen abgesehen, hat sich ebenso abgewandt. Müllers Texte betrieben, schrieb die Zeit, eine „Totenbeschwörung“. Man will von Lenin und Hitler nichts mehr wissen, ebenso wenig wie von Brecht, Sophokles und Shakespeare. Das Elend der deutschen Geschichte betrachtet man auf hiesigen Bühnen nur noch als privates Dilemma, gern auch als privates Dilemma des Dichters Müller. So bleibt also nichts übrig als die öffentliche Person Müller, die die Texte des Dichters verdeckt hat. Dieser Müller ist noch vor aller Augen.
Müller hat somit immerhin, auch darin Brecht folgend, das Bild bestimmt, das die Nachwelt erinnern wird. Und kein anderer Müller ließe sich heute verkaufen. Nicht umsonst erscheinen bei Suhrkamp, seit Beginn der Werkausgabe sein Verlag, nun die „Autobiographie“ und „Der Tod ist ein Irrtum“, ein Band mit privaten Fotos von Müller und Brigitte Maria Mayer und einigen Faksimiles. Eine andere Sonderausgabe zum Todestag oder wenigstens eine Taschenbuchausgabe seiner Stücke werden nicht angeboten. „Klassiker der Weltliteratur“ behandelt man bei Suhrkamp gemeinhin anders.
Heiner Müllers Texte, die schlechten wie die guten, sind verschütt gegangen in einem Deutschland, das Müllers Fragen nicht begreifen kann oder mag, das seine Angriffe ignoriert und seine Leseerfahrung nicht teilt. Sie ruhen, wie ihr Autor, bei den Toten. Die allerdings, wusste er, werden eines Tages befreit.