BETR.: ANGELA MERKEL UND DER WAHLKAMPF-FAKTOR FRAU

Antje Schlag, 37, Gründerin der Initiative www.frauen-fragen-merkel.de :

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, wir gestehen, Sie haben uns in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Und wir glauben, vielen, vielen Frauen in Deutschland geht es ähnlich. Wir sind hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Verstand. Auf der einen Seite fänden wir es natürlich toll, dass am 18. September zum ersten Mal eine Frau die höchste Verantwortung für die Politik in diesem Land übernehmen könnte. Eine Frau als Kanzlerin. Haben wir nicht alle schon lange davon geträumt?

Auf der anderen Seite wachsen in uns mehr und mehr Zweifel, ob Ihre Wahl auch wirklich gut wäre für uns Frauen. Lassen Sie es uns kurz begründen: Im Wahlprogramm der CDU, der Sie als Parteivorsitzende vorstehen, wird auf über 30 Seiten genau an drei Stellen kurz über uns Frauen gesprochen. Einmal im Zusammenhang mit Menschenhandel. Einmal zum Thema Zwangsheirat. Und nur einmal ganz unverbindlich im Zusammenhang mit einem allgemeinen Wunsch nach Gleichstellung von Frauen in der Berufswelt. Mehr nicht. Wo sind Ihre Aussagen zu so wichtigen frauenpolitischen Themen wie: Frauenförderung? Frauenerwerbsquote? Gleichstellung der Geschlechter in allen Politikbereichen? Gleicher Verdienst bei gleicher Arbeit? Zugang zu Führungspositionen? Dazu hören und lesen wir viel zu wenig von Ihnen. Wir wollen es genau wissen: Wohin geht die Reise für uns Frauen mit einer Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Ulla Meinecke, 53, Sängerin:

Auf den letzten Metern zieht Frau Merkel aus apricotfarbenem Ärmel die Frauenkarte – in ihrem Fall eine echte Lusche! Die Politik, die sie vertritt, ist nicht besonders frauenfreundlich. Ginge es nur nach dem Geschlecht, müssten wir sofort eine Fanpage für Condoleezza Rice einrichten. Frauen in die Bundeswehr – rechts um, und ab nach Bagdad! Das wäre gewesen mit Frau Merkel als Kanzlerin. Plötzlich soll die Aussicht auf eine Regierungschefin die Inhalte übertönen, um neue Wählerinnen zu fangen. Und das könnte dabei rauskommen: Frau Merkel als Frau und Merkel; Westerwelle für die funny Neoliberalen, zugleich Symbol für die Lesben und Schwulen; und für den gemütlichen Teil des Abends ein starrer Trachtenträger, der seine Frau in aller Öffentlichkeit „Muschi“ nennt. Wenn das kein schrilles Angebot ist. Soll tatsächlich die Lage der im Körpersüden befindlichen Armaturen (innen oder außen) die Wahlentscheidung tragen? Symbol hin, Meilenstein her – wer Merkel als Kanzlerin will, kriegt die real existierende CDU/CSU. Diesen Faden beißt auch Frau Schwarzer nicht ab.

Lisa Fitz, 54, Kabarettistin:

Die CDU – wie komm ich jetzt da drauf … ah ja, BIER und hängende Mundwinkel … jedes Volk kriegt die Politiker, die es verdient – die CDUhu ist in einer Scheißsituation, trotz Wahlsieg. Des Karmagesetz is genial: Die CDUhu, mit der Frauenpolitik Jahrzehnte von vorvorgestern – Mutti am Herd, Familie, Schratzi-Schratzi –, jetzt müssen die von überübermorgen sein und die erste Frau als Kanzlerin stellen, is das geil? Als feministische Sciencefictionpartei müssen die diese Kröte schlucken. Bildlich gesprochen. Da heißt’s umdenken, meine Herren, Sapperlot. Da knirscht und ächzt es gewaltig in den Hirnen der Landwirte und Vereinsmeier. Da hab ich aber schon eine heilige Form von Schadenfreude! Da kämpft man jahrelang für die Frauenrechte – bei der SPD –, und dann nimmt eim die CDU die Arbeit ab. Genial. Zuerst hieß es permanent: „Für eine Frau ist die Zeit nicht reif!“ Auf einmal tönte man allerorten: „Das Geschlecht spielt überhaupt keine Rolle!“ Bei Frau Merkel stimmt das ja auch. Und jetzt lacht sie auch immer.

Claudia Michelsen, 36, Schauspielerin:

Die Haltung von Frau Merkels Union kennt nur das konservative Familienbild: Vater geht arbeiten und schafft das Geld ran, Mutter bleibt zu Hause. Entgangen ist offensichtlich, dass sich in unserer Gesellschaft schon seit langem auch andere Formen von Lebensgemeinschaften entwickelt haben! Zum Glück. Gerade diese Entwicklung, die nicht zu stoppen ist, zeigt, dass es eben auch Sache der Gesellschaft ist, welche Bildungsmöglichkeiten Kleinkinder haben, wie allein erziehende Frauen Erziehung und Beruf vereinbaren. Und berufstätig müssen diese Frauen sein, sie müssen dafür sorgen, dass sie und ihre Kinder die Gesellschaft weiter mit bauen und Rentenvorsorge schaffen, auch für Frau Merkel. Der Kinderbonus von 50 Euro Ermäßigung auf die Rentenversicherung bringt den Frauen deshalb nichts. Ganztagsbetreuung für Kleinkinder ist nach Frau Merkels Meinung Sache der Länder. Ein Prozess, der Voraussetzungen für ein kinder- und familienfreundliches Gesellschaftsbild schafft und der lange überfällig war, wird mit der Politik von Frau Merkel und Co. radikal abgelehnt. Für mich inakzeptabel.

Maren Kroymann, 56, Schauspielerin:

Warum soll ich eine Politikerin wählen, deren weiblicher Lebensentwurf als kinderlose Intellektuelle im Weltbild ihrer eigenen Partei gar nicht vorkommt?

Katharina Rutschky, 64, Soziologin und Journalistin:

Kein Mensch kann etwas gegen Angela Merkel haben. Dass sie mal in der Spenden- und Ehrenwortgeschichte ihres Förderers Helmut Kohl der elementaren Moral vor der Loyalität den Vorzug gegeben hat, sei nicht vergessen. Wenn’s um Moral geht, sind Frauen unbestechlich. Im Emma-Interview mit Alice Schwarzer kündigte Frau Merkel an, dass sie ihr Augenmerk auf die Verfolgung von Freiern, der Zwangsprostitution und der Zwangsehe richten werde. Wenigstens einmal Wasser auf die Mühlen des Schwarzer’schen Feminismus, dem über solchen Fragen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei dann doch schnuppe sind. Anders als einem Kanzler Edmund Stoiber sehe ich einer Kanzlerschaft von Angela Merkel aber trotzdem nicht mit Angst entgegen. Verkündet hat sie schon, dass sie strittige Neuerungen von Rot-Grün nicht rückgängig machen wird. Frau Merkel ist schließlich geschieden, kinderlos und hat gegen den Protest von Kardinal Meisner mit ihrem zweiten Ehemann sogar eine Weile in freier Partnerschaft gelebt. Wow! Ich changiere in der Wertung zwischen selbstverständlich und langweilig. Merkel vertritt in Reinkultur den Typus des braven Mädchens, das dann als Frontfrau übrig bleibt, wenn die eigentlich wichtigen Männer sich nicht ohne Blutvergießen einigen können. Als Feministin frage ich aber auch, wie Frau Merkel eigentlich von einer Kanzlerschaft persönlich profitieren würde. Das Persönliche ist politisch! Eigene Ideen hat diese vernünftige und rundherum nette Ossi-Frau nicht – selbst die Machtgier treibt sie nicht wirklich. Soll man ihr also einen Bonus geben, weil eine weibliche Kanzlerin einen symbolischen, wenn schon keinen anderen Mehrwert für die deutsche Gesellschaft abwerfen könnte? Nö.

Ulrike Draesner, 43, Schriftstellerin:

„Sehr geehrte Frau Dr. Merkel, Sie sagen, dass Sie sich heute stärker als Frau fühlen als je zuvor, und das will ich Ihnen gern glauben, denn Sie strahlen es auch auf Bildern aus, denen ich allerdings nicht glauben will, was Sie mich unbedingt glauben machen wollen, also eben Ihre Ausstrahlung, sodass ich, um überhaupt etwas zu glauben – was ich wiederum gern würde, denn wählen mit Glauben ans Wählen ist besser als wählen ohne Glauben oder gar Wählen ohne Glauben an die Gewählten –, von Ihnen gern wüsste, wie ich glauben soll, dass Sie sich als Bundeskanzlerin gerade in Bezug auf die Förderung von Frauen effektiver, unterstützender und entschiedener verhielten als vor Jahren als Frauenministerin, wobei ich sofort glaube, dass Sie heute eine andere sind als damals, was mich, wie Sie mir leicht glauben können, gleichermaßen beruhigt wie beunruhigt (denn was heißt schon dieses „anders“?), sodass ich nun an Ihre Antwort vielleicht nicht sofort glaube (stammt Sie wirklich von Ihnen, oder schreibt sie ein Helfer?), aber doch darauf warte, um mich überzeugen zu lassen, wie ich mir in diesen Wochen die aus Ihren frauengerichteten Worten folgenden politischen Taten glaubhaft vorstellen soll, um dem Zirkel eines Glaubens, das ein Glaubenmüssen ist, endlich zu entrinnen, denn allzu gern würde ich an eine Verbesserung der Verhältnisse im Land nicht nur glauben, sondern sie erleben.“

Antje Ravic Strubel, 31, Schriftstellerin:

Erinnern Sie sich daran, was Sie noch 1993 in einer Buchrezension zu Susan Faludis „Backlash“ geschrieben haben: „Denn ich merke, dass Frauen so lange schwer vorankommen, wie sie nicht im gleichen Maße teilhaben am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben.“ … Wir Frauen müssen weitergehen auf dem Marsch durch die Institutionen und teilhaben an der öffentlichen Macht! Sie zeigen uns, dass das geht, aber Ihr Parteiprogramm wirkt, als sollten sich hinter Ihnen die Fluten wieder schließen … Ist das so: Kommt man nur abgeschliffen an die Spitze?

Luci van Org, 34, Sängerin:

Liebe Frau Dr. Merkel, als Frau und Mutter wüsste ich gern, was Sie für ein Männerbild haben. Bis jetzt sieht es für mich nämlich so aus, als wäre der männliche Alleinverdiener, der seiner Frau Windeln, Wäsche und die Erziehung der Kinder überlässt (damit sie, laut Herrn Kirchhof, „Karriere in der Familie“ machen kann), für Sie kein überkommenes Relikt aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, sondern der Idealfall. Ist das so? Was ist mit den Frauen, die trotzdem den Männern Arbeitsplätze wegnehmen wollen? Müssen die dann zur Strafe auf Kinder verzichten? Haben Sie, Frau Merkel, sich eigentlich bewusst für Ihre Karriere und gegen eine Familie entschieden? Wenn ja, erwarten Sie das auch von Ihren Geschlechtsgenossinnen? Soll ich im Merkel-Deutschland dann nicht am besten gleich ganz zu Hause bleiben und noch möglichst viele Kinder gebären? Schließlich brauchen wir doch Ihrer Meinung nach so dringend Nachwuchs. Oder habe ich Sie falsch verstanden, und Sie stehen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf für beide Geschlechter? Oder waren das doch die anderen?

Seyran Ates, 42, Rechtsanwältin und Autorin:

Es sind keine drei Wochen mehr zu vorgezogenen Wahlen, und es steht zu befürchten, dass Angela Merkel tatsächlich als erste Frau unser Land regieren wird. Es sei denn, die Wählerinnen und Wähler haben am Tag der Entscheidung doch noch eine Eingebung, die ihren Verstand wachrüttelt. Angela Merkel darf aus vielerlei Gründen nicht gewählt werden. Sie darf aber insbesondere nicht nur deshalb gewählt werden, weil sie eine Frau ist. Das will sie ja auch nicht. Denn sie weiß es und sagt es doch in aller Deutlichkeit, dass Frauenthemen nicht ihr Thema sind. Zum Beispiel im Interview mit Alice Schwarzer: „Im Gegenzug habe ich mich in einem für mich ungewohnten Maße auch öffentlich zu meinem Frausein bekannt.“

So kurz vor Toresschluss die eigene Weiblichkeit zu entdecken dürfte den intelligenten Wähler und vor allem die sehr intelligenten Wählerinnen nicht beeindrucken. Wissen wir doch, dass fortschrittliche Frauenthemen noch nie Schwerpunkt schwarzer Politik waren. Doch warum hat Angie erst so spät bemerkt, dass sie mit ihrem Frausein Stimmen gewinnen könnte? Schließlich sind die weiblichen Wähler keine zu unterschätzende Größe. Irgendwie hat ihr Bekenntnis daher einen schalen Beigeschmack. Wir sind es ja gewohnt, dass man und frau sich in der Politik zu seiner/ihrer Homosexualität bekennen muss, in dieser mehrheitlich homophoben und heterosexuellen Gesellschaft. Aber dass wir uns zu unserem Frausein bekennen müssen, lässt mich Schlimmes erahnen, wohin Frauenpolitik gehen könnte.

Adisat Semenitsch, 44, Schauspielerin:

Warum sollte ich die CDU mit Kanzlerkandidatin Merkel wählen? Ich bin allein erziehende Mutter von zwei minderjährigen Kindern und Schauspielerin. Kultur hat in der Politik der CDU nur unwesentliches Gewicht, und wo es um nachschulische Betreuung geht, wäre ich weiterhin auf mich selbst gestellt. „Frauen gehören in die Familie“ (Kirchhof). Also passe ich genauso wenig in das traditionelle patriachalische Frauenbild der CDU wie Frau Merkel selbst.