: Muslime im Cyberspace
Muslime in Europa werden in ihren Gesellschaften ausgegrenzt – zugleich kommen die Staaten Europas muslimischen Fundamentalisten der arabischen Welt weit entgegen
Die Affäre um Salman Rushdie vor siebzehn Jahren war von entscheidender Bedeutung. Die Energien, die durch sie entfesselt wurden, die Forderungen, denen sie Ausdruck verlieh, die ultrakonservative Stimmung, der sie Gestalt gab – all dies zeigte zum ersten Mal, wie die Gesellschaftspolitik der westeuropäischen Staaten langfristig wirkte. Letztlich sanktionierten sie Forderungen fundamentalistischer muslimischer Organisationen, die sich gesellschaftlichen, kulturellen und juristischen Normen in diesen Gesellschaften nicht unterwerfen wollten. Dies geschah besonders in jenen Staaten, die – historisch durch den Protestantismus geprägt – eine Politik der Ghettoisierung betrieben hatten. Dies geschah gleichermaßen unter dem Zeichen der Religion wie unter dem scheinbar harmlosen und täuschend freundlichen des Multikulturalismus.
Es überrascht nicht, dass in Zeiten der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise, des Zusammenbruchs von Leitgedanken der Aufklärung sowie einer weltweiten Islamophobie nun eine neue Generation junger europäischer Männer und Frauen muslimischer Herkunft in dem Glauben heranwächst, dass ihre Eigenschaft als Europäer nur virtuell sei. Sie glauben, dass sie anderswo hingehörten, in eine Cyberspace-Welt der Vorstellungskraft, die von fernen Ländern wie Afghanistan, Tschetschenien oder Irak verkörpert wird. Die Terroranschläge von Madrid, London oder Amsterdam sind Folge davon.
Dafür sind westeuropäische Regierungen unbewusst mitverantwortlich. Nicht nur wegen ihrer „multikulturalistischen“ Politik, die das Gefühl, außergewöhnlich zu sein und den Wunsch, die eigene Identität aggressiv zu verteidigen, unter denjenigen Europäern muslimischer Herkunft verstärkt, die außerhalb der unkontrollierten Moschee über keine anderen gesellschaftlichen Netze und Einbindungen verfügen.
Trotz wiederholter Warnungen haben diese Regierungen islamistischen Kadern Zuflucht gewährt, nachdem sie aus ihren Herkunftsländern geflüchtet waren – denen gegenüber sie im Übrigen weit weniger loyal waren als gegenüber ihrem imaginären islamischen Reich. Anschläge gegen Zivilisten in Ägypten, Marokko oder Syrien schienen weit weg und waren ohne Belang für das freundliche Entgegenkommen, das den Tätern in Deutschland, Großbritannien oder Schweden gezeigt wurde. Vergangene Woche erst fand der Kongress der syrischen Muslimbruderschaft – ausgerechnet – in London statt.
Die Rolle der USA bei der Unterstützung islamistischer Bewegungen ist bekannt. Dass sie nun weltweite Auswirkungen hat und etwa im Irak dazu führt, dass terroristische Bewegungen wachsen und gedeihen, erinnert an Frankenstein, der ein Monster schuf, das sich gegen seinen Schöpfer wandte.
Die Regierungen und Bürger Europas müssen sich dieser Situation stellen. Das wichtigste hierbei ist eine angemessene Einstellung: Muslime oder besser gesagt: Europäer muslimischer Herkunft, die sich eher als Muslime definieren wollen als als Deutsche oder Briten, sollten nicht mehr den Eindruck vermittelt bekommen, sie würden als exotisch und seltsam wahrgenommen und gehörten eigentlich woanders hin. In den Medien werden Muslime derzeit gerne als Supermuslime dargestellt: Klischees über Muslime werden vertieft, und es wird von ihnen erwartet, dass sie sich entsprechend dem Klischee verhalten. Sie werden förmlich dazu ermuntert, in der Annahme, dass dies der Eigenart ihrer Gesellschaft entspricht. Außerdem muss man sich im Klaren darüber sein, dass Terrorismus weniger mit dem Koran als mit der Chancenlosigkeit und dem Nihilismus von Menschen oder Gruppen zu tun hat, die nur wenig zu verlieren haben oder wenig, wofür es sich zu leben lohnt.
Wie immer sitzt der Nihilismus an der Schnittstelle zwischen vollständiger Entfremdung und schwärmerischem Engagement, und viele derjenigen, die an den Anschlägen in Madrid und London und zuvor in Algerien und anderswo beteiligt waren, kamen aus der Drogenabhängigkeit zu Gott und Bomben, genauso wie George Bush sich von seiner Alkoholabhängigkeit auf die Verkündigung des Evangeliums verlagert hat. Wenn man wahrhaftig annähme – wobei diese Annahme durch die Buchstabengläubigkeit der Protestanten unterstützt wird –, dass Menschen, die sich zu einer bestimmten Religion bekennen, unweigerlich im Einklang mit den entsprechenden kanonischen Vorschriften handeln, dann würde man zu folgendem Schluss kommen: Alle Juden und Christen müssen eine Neigung zu Mord und Völkermord haben, wenn man sich vor Augen hält, welches Verhalten ihnen das Alte Testament gegenüber den Kanaanitern gebietet.
Wir brauchen also zweierlei: einerseits weniger Ausgrenzung und Stigmatisierung, andererseits energische und sozioökonomisch sinnvolle Integration. Dazu gehören einige der bereits in Frankreich und der Türkei eingeführten Maßnahmen, wie das allgemeine Verbot religiöser – nicht nur muslimischer – Symbole im öffentlichen Dienst, einschließlich der Schulen. Allerdings muss hier die notwendige Integrität gewahrt werden: Der Begriff Leitkultur kann nicht so verstanden werden, dass er für christliche Werte steht. Er beruht auf einer republikanischen Gesinnung und steht für eine Zivilität, auf deren Grundlage das Leben nicht nur der modernen Gesellschaften Europas beruht, sondern der Gesellschaften in der ganzen Welt, einschließlich der arabischen.
Nur durch die ausgeprägten Klischees über sich selbst und über andere werden die meisten Deutschen daran gehindert, dies so zu sehen. Der Islam ist keine „Kultur“, und auch die Frage des Islam in Europa ist nicht vordergründig eine Frage der Kultur. Die Annäherung der Türkei an die EU muss mit Geschick und eindeutiger Klarheit behandelt werden, ohne Heuchelei und ohne sich technischen Formalitäten oder künstliche Probleme auszudenken, nur um eine unterschwellige Feindschaft aufrechtzuerhalten, die im Grunde nichts anderes ist als ein religiöses Empfinden. Europa muss entschlossen an seiner säkularen Berufung festhalten und konservativen Tendenzen widerstehen, wenn es seine Muslime integrieren will.
Anders gesagt, sollte es keine Plädoyers pro oder contra geben: Alle Bürger müssen gleichermaßen Bürger sein, unabhängig von ihrer Herkunft. Allerdings ist zu befürchten, dass Menschen muslimischer Abstammung weiter anders behandelt werden als andere – unter solchen Etiketten wie „Partnerschaft“ in Großbritannien oder der vom spanischen Regierungschef Zapatero beschworenen „Allianz der Zivilisationen“. Durch solche Etikettierungen werden Unterschiede generiert und in vielen Fällen sogar neu erfunden, wobei gleichzeitig gesellschaftliche Beziehungen durch deren Sublimierung als „Kultur“ oder „Zivilisation“ mystifiziert werden. Solche Etikettierungen gehen an der Sache vorbei und können fatale Folgen haben. AZIZ AL-AZMEH
Aus dem Englischen von Beate Staib