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Archiv-Artikel

„Wir wissen nicht einmal, was al-Qaida ist“, sagt Christopher Daase

Die islamistischen Terroristen könnten im Nahen Osten langfristig ein Regime stürzen. So gefährlich war die RAF nie

taz: Herr Daase, auf den ersten Blick hat das Terrornetzwerk al-Qaida mit der deutschen RAF kaum mehr gemein als die Tatsache, dass beide terroristische Akte verübten. Trügt dieser Eindruck?

Christopher Daase: Genau betrachtet, stimmt nicht einmal das. Denn die Art des Terrorismus, den die RAF benutzte, unterscheidet sich ganz erheblich vom Terrorismus von al-Qaida. Deshalb wird in der letzten Zeit häufig behauptet, man müsse zwischen einem alten und einem neuen Terrorismus trennen. Charakteristisch für den alten waren demnach zum Beispiel eine straffe Organisation und klare Kommandostrukturen. Der neue hingegen sei nur schwach organisiert, religiös geprägt, vor allem islamistisch. Ich glaube jedoch, dass diese strikte Entgegensetzung nicht ganz greift.

Wieso nicht?

Zunächst hat auch al-Qaida politische Ziele, was im Westen häufig nicht beachtet wird. Was aber noch wichtiger ist: Egal ob RAF oder al-Qaida – die Terrororganisationen stehen alle vor ähnlichen Herausforderungen. Sie müssen im Verborgenen wirken und sich davor schützen, entdeckt zu werden. Sie müssen Material für ihre Anschläge besorgen, Ziele ausspähen, Nachwuchs rekrutieren, für die Linientreue der Anhänger sorgen. Die Gruppierungen wählen dafür schlicht unterschiedliche Wege: Die RAF setzte auf die klassische Form einer starken Organisation, al-Qaida baut auf eine betont lockere Netzwerkstruktur.

Würden Sie al-Qaida trotzdem als die modernere Terrororganisation von beiden bezeichnen?

Al-Qaida kann auf modernere Kommunikationsmittel und Finanzierungswege setzen, die der RAF nicht zur Verfügung standen. Ich halte die von al-Qaida gewählte lockere Organisationsform aber nicht per se für moderner. Dank dieser Struktur kann sich al-Qaida zwar leichter der Verfolgung entziehen und hat eine größere Verbreitung. Aber das Modell hat auch klare Nachteile. So lässt sich aus den jüngsten Anschlägen kaum noch eine militärische Strategie herauslesen. Es zeigt sich immer stärker, dass Gruppen unabhängig voneinander, auf eigene Kosten arbeiten. Das ist sicher schlecht für die politischen Ziele von al-Qaida.

Heißt das auch, wir überschätzen al-Qaida?

Ich glaube, dass al-Qaida zumindest durch die Antiterrorprogramme der Regierungen und die Medienberichterstattung klarere Konturen bekommt, als das Netzwerk tatsächlich hat. Unser Bild des Phänomens ist zu einem großen Teil von uns selbst konstruiert. Letztlich wissen wir doch gar nicht wirklich, was al-Qaida ist. Aber die Politik braucht einen klaren Gegner. Sonst lässt sich eine Gegenstrategie schwer rechtfertigen und durchsetzen.

Dennoch: Ist al-Qaida nicht ungleich gefährlicher, als es die RAF war?

Natürlich. Al-Qaida bedroht mehr Menschenleben. Die Anhänger des Netzwerks sind viel eher bereit, mit Anschlägen möglichst viele Zivilisten zu töten. Zudem ist al-Qaida für einige Staaten des Nahen und Mittleren Ostens eine ernsthafte Bedrohung. Ich denke an Saudi-Arabien oder den Irak. Der Terrorismus könnte dort zu solcher Instabilität führen, dass ein Regime weggefegt wird. Dieses Risiko bestand in Deutschland auch zur Hochzeit des RAF-Terrorismus nie.

Und ist der Kampf gegen al-Qaida wirklich schwieriger?

Auf der einen Seite sicherlich, weil al-Qaida so wenig greifbar ist. Die RAF konnte mit relativ traditionellen polizeilichen Mitteln bekämpft werden, das ist bei al-Qaida nicht möglich. Das größere Problem ist aber, dass man Fehlwahrnehmungen erliegt. Man glaubt Dinge, die man nur selbst in die Organisation hineininterpretiert. Ich glaube, dass der globale „Krieg gegen den Terror“ auch deshalb kontraproduktiv ist. Er ist sicher richtig, dass verschiedene lokale Terrorgruppen im Nahen und Mittleren Osten, in Südasien und Südostasien zusammenarbeiten und gelegentlich Kontakt zu al-Qaida haben. Das heißt aber nicht, dass es al-Qaida als zentrale Großorganisation gibt. Wer zum globalen Kreuzzug gegen den islamistischen Fundamentalismus aufruft, der stärkt den internationalen Terrorismus. Denn das wirkt wie eine Einladung an alle möglichen islamischen Gruppen, sich al-Qaida anzuschließen.

Was wäre Ihr Rezept?

Sinnvoll wäre eine detailliertere, gezieltere Strategie gegen einzelne Gruppierungen in verschiedenen Regionen. Die Aktionen müssten sehr viel genauer auf sie zugeschnitten werden und mit politischen Entwicklungsprogrammen Hand in Hand gehen.

Die RAF hat sich 1998 selbst für aufgelöst erklärt. Welche Lebenserwartung geben Sie al-Qaida?

Da wage ich keine Prognose. Klar ist aber: Man kann von al-Qaida nicht erwarten, dass sie sich so wie die RAF mit einer formellen Bankrotterklärung auflöst. Dafür ist al-Qaida gar nicht ausreichend institutionalisiert. Denkbar wäre eher, dass sich das Netzwerk zunehmend verflüchtigt, dass al-Qaida an Bedeutung verliert und irgendwann kein großes Thema mehr ist.

Könnten die Medien dabei helfen, al-Qaida die Bedeutung zu nehmen?

Vermutlich schon. Ein geringerer Hype würde dazu beitragen, dass al-Qaida unterminiert wird. Außerdem sollten in den Medien die regionalen Unterschiede des islamistischen Terrorismus klarer gemacht werden. Das könnte helfen, al-Qaida zu entzaubern.

INTERVIEW: ASTRID GEISLER