: „Arme Familien grenzen sich ab“
Der Bielefelder Forscher Klaus Hurrelmann zu den lebenslangen Folgen von Armut für Jungen und Mädchen. Auch Schützenvereine können für eine erfolgreiche Schullaufbahn entscheidend sein
INTERVIEW: NATALIE WIESMANN
taz: Die Kinderarmut ist in den letzten zehn Jahren stark angewachsen. Was kommt mit Hartz IV auf uns zu?
Klaus Hurrelmann: Es ist schwer zu prognostizieren, ob die Wohlfahrtsverbände richtig liegen mit ihrer Einschätzung, dass durch die neuen Gesetze noch mehr Familien in relativer Armut leben werden...
Was bedeutet relative Armut?
In einer reichen Gesellschaft wie unserer sind nur sehr wenige Menschen existenziell bedroht. Relative Armut heißt, im Vergleich zur übrigen Bevölkerung weniger materielle, kulturelle und soziale Mittel zur Verfügung zu haben und damit von der gesellschaftlich üblichen Lebensweise ausgeschlossen zu sein. Nach vielen, vielen Jahren, die wir in Deutschland soziale Ungleichheit unter Kontrolle halten konnten, wird diese Armut durch die hohe Arbeitslosigkeit in die Familien hinein transportiert. Davon sind etwa 10 oder noch mehr Prozent der Kinder betroffen. Sie kommen vor allem aus Familien, in denen Eltern über lange Zeiträume arbeitslos oder Mütter allein erziehend sind sowie aus Familien mit Migrationshintergrund.
Wie sieht ein armes Leben in Deutschland aus?
Diese Kinder wohnen schlechter, ihr Zugang zu sozialen und gesundheitlichen Hilfsdiensten ist schlechter, gekoppelt daran sind die Bildungchancen geringer, die Kinder bekommen auch keine kulturellen Impulse, sie sind immer mehr eingeschränkt. Die Kinder empfinden, dass sie anders sind, grenzen sich dann selbst ab. Oft zieht sich die ganze Familien in die vier eigenen Wände zurück.
Arbeitslosengeld II-Empfänger müssen im Gegensatz zu heute den Eigenanteil an Klassenfahrten und Lernmitteln ihrer Kinder selbst zahlen. Wie sollen Schulen damit umgehen?
Die meisten benachteiligten Familien schämen sich für ihre Situation. Darauf muss sehr sensibel reagiert werden. Ein Weg wäre die Einrichtung eines Fonds, in die alle einzahlen. Die Lehrerschaft könnte dann sehr vertraulich und anonym entscheiden, wer davon profitiert. So etwas gibt es heute schon.
Wie gehen Kinder damit um, dass sie ärmer sind?
Grundsätzlich ist das für Kinder sehr schwer nachzuvollziehen, dass sie anders sind, was sich auch an der Kleidung zeigt. Bei einigen führt das zu Diebstählen, die meisten tragen die Last in Form von emotionalen und gesundheitlichen Störungen aus.
Kann ein ärmeres Kind unbeschadet durchs Leben kommen?
Es gibt eine Gruppe , die ich „die Unverletzlichen“ nenne. Diese können mit der Situation umgehen, werden nicht aggressiv oder depressiv. Das ist ungefähr die Hälfte.
Und die andere Hälfte?
Diese ist in ihrem Selbstwertgefühl stark beeinträchtigt. Es kommt auf die Mentalität und das Umfeld des Kindes an, wie sich das dann auswirkt. Ein Drittel der Kinder, meistens Jungs, sind verhaltensauffällig: Sie greifen andere an, sind hyperaktiv oder stark unfallgefährdet. Ein weiteres Drittel, vor allem Mädchen, verarbeitet ihre Benachteiligung eher durch eine schlechte Körperhygiene, Essstörungen, Depressionen oder sogar Sprachstörungen. Das letzte Drittel weicht aus: Diese Kinder greifen früh zu Suchtmitteln wie Zigaretten, Alkohol und Fernsehen, bewegen sich kaum, neigen zu Übergewicht. Es handelt sich hier um eine regelrechte Selbstaufgabe von Körper und Psyche.
Bei gleicher Intelligenz hat ein Kind aus gut situiertem Hause laut PISA-Studie sieben Mal so viel Chancen auf einen guten Schulabschluss als ein armes Kind.
Hier beißt sich die Katze wieder in den Schwanz. Sozial benachteiligte Kinder sind durch ihre niedriges Selbstwertgefühl oft auch diejenigen mit den schlechten Schulleistungen. Auf diese Diagnose muss eine gezielte Förderung der sozialen, psychischen und intellektuellen Fähigkeiten aufgesetzt werden. Aber hierin ist das deutsche System nicht gut.
Warum?
Weil wir nicht die Verbindung von Leistungsfähigkeit mit sozialen Kompetenzen sehen. Dass das so stark zusammenhängt, ist eigentlich eine alte pädagogische Erkenntnis, die sogar aus Deutschland, aus den 1920ern kommt. In der Praxis berücksichtigen wir das aber nicht. Dadurch kommt es zu einem weiteren Aufschaukeln der Benachteiligung der Kinder in der Schule.
Ein Grund, warum es bald ein flächendeckendes Ganztagsangebot geben soll...
Mit Nachmittagsbetreuung lassen sich strukturelle Unterschiede abbauen, was man an anderen Ländern sehen kann. Allerdings hinkt Deutschland damit 20 bis 30 Jahre hinterher.
Reicht Hausaufgabenhilfe denn aus, um ärmere Kinder aus ihrer benachteiligten Situation herauszuholen?
Nein, wir brauchen dringend eine ganzheitliche Betreuung dieser Kinder vor Ort, ein Konzept der aufsuchenden Hilfe. Es gibt zwar genug solcher Angebote, die diese Familien aus welchen Gründen auch immer nicht wahrnehmen. Konkret stelle ich mir vor, dass es an einer Schule einen Sprachlehrer gibt, der Sprechstörungen ausgleicht sowie einen Schulpsychologen, der regelmäßig Sprechstunden abhält. Außerdem einen Sozialarbeiter, der da ist, wenn man ihn ruft. Zu einem neuen Konzept gehört auch eine Sensibilisierung der Erzieher und Lehrer in solchen Fragen.
Müssen dafür nicht auch die Gruppen verkleinert werden?
Das wäre zwar wünschenswert, aber da muss ich als Wissenschaftler die Praktiker enttäuschen. Die Forschung kann keinen direkten Zusammenhang zwischen Gruppengröße und Leistungskompetenz feststellen. Leistungsergebnisse und auch soziale Kompetenzen hängen vielmehr davon ab, wie gearbeitet wird. Ob eine Möglichkeit besteht, dass Kinder über Gruppenaktivitäten sich selbst beschäftigen können, so dass ein Pädagoge nicht ständig frontal als Koordinator der gesamten Gruppe auftreten muss. In den Grundschulen in Nordrhein-Westfalen ist dieser Paradigmenwechsel weitgehend schon erfolgt, an den weiterführenden Schulen nicht. Wir sind da sehr langsam.
Haben Sie ein Vision der Schule von morgen?
Man könnte alle Schüler sechs Jahre zusammen lassen. Schulen sollen zu einer Art Stadtteilzentrum mutieren. Eltern müssen mit einbezogen werden, aber auch Sportvereine, Schützenvereine, Feuerwehrvereine, Kirchen und Gewerkschaften.