: Schlecht sitzender Einteiler
Statt eines einheitlichen Konzepts wird auch an Ganztagsschulen die strikte Trennung von Vormittagsunterricht und Nachmittagsunterhaltung praktiziert. Aber längst ist ein Run auf die Ganztagsmilliarden des Bundes ausgebrochen und die Schule von 8 bis 16.30 Uhr tausendfach zu finden
VON CHRISTIAN FÜLLER
So aufregend fanden deutsche Pädagogen einen Bikini noch nie. „Dieses Bikini-Modell“, schimpft der Dortmunder Schulforscher Heinz Günter Holtappels, „hat überhaupt keine Bindung zwischen oben und unten. Und es deckt nur das Nötigste ab.“
Beim Bikini geht es diesmal nicht um anzügliche Teenie-Mode, die LehrerInnen rote Köpfe macht. Es geht um die Schrumpfform der Ganztagsschule. Die Vertreter der reinen Lehre ärgern sich darüber, dass das Bundesprogramm zur Errichtung von Ganztagsschulen den Ländern pädagogisch zu viele Freiheiten lässt. Die Ganztagsschulen, die nun entstünden, heißt es, besäßen gar keine integrierten Unterrichtskonzepte für Vor- und Nachmittag. Es sind Zweiteiler: Morgens die Stundenschule wie bisher. Dann Essen. Dann bleiben ein paar Schüler, um Freizeitangebote zu genießen. Mehr nicht.
Soll das etwa der pädagogische Fortschritt gewesen sein, den Rot-Grün vor der Bundestagswahl 2002 versprach? Als Antwort auf die Pisa-Defizite der Schüler und die Larmoyanz der Kultusminister hatte die Bundesregierung ein gigantisches Investitionsprogramm verabschiedet. Ein Viertel der 40.000 deutschen Schulen sollte bis 2007 zu verlässlicher Betreuung bis zum Nachmittag befähigt werden. Die Kinder sollen mehr gefördert und ihre Mütter sich von Heim und Herd weiter entwickeln dürfen. Vier Milliarden Euro spendierte die Bundesregierung dafür. Die Bundesländer zickten von der ersten Minute an – und begannen die Anforderungen an die Ganztagsschulen aufzuweichen.
„Diese Placebo-Schulen werden der Idee der Ganztagsschule einen Bärendienst erweisen“, brummt Bernhard Teich nun. Der Schulrat im Saarland ist seit vielen Jahren für Ganztagsschulen zuständig – für echte, wie er betont. „Ganztagsschulen brauchen ein eigenes pädagogisches Programm, und sie brauchen Qualitätsstandards“, sagte Teich bei einer Expertentagung der Evangelischen Akademie in Bad Boll, die eine qualitative Evaluierung der Ganztagsschulen vorgenommen hat. Und weil es bisher weder verbindliche Standards noch Programme gibt, befürchtet Teich nun Schlimmes. Nach dem Mittagessen findet keine Schule statt, sondern Freizeit. Die Lehrer sind vormittags da, am Nachmittag nur noch Hilfskräfte. Diese Ersatzlehrer seien symptomatisch: „Unter dem Strich zieht sich der Staat schleichend aus der öffentlichen Aufgabe Bildung zurück“, meint Teich.
So falsch scheint der Schulrat damit nicht zu liegen, schaut man auf die Zahlen. 2.015 Ganztagsschulen gab es im Jahr 2001 in Deutschland. Dann kam 2002 das Wahlversprechen von Kanzler Gerhard Schröder (SPD), Ganztagsschulen mit Bundesmitteln ausbauen zu wollen. Und 2003 gab es plötzlich 4.841 Ganztagsschulen – ohne dass ein Cent schon verbaut gewesen wäre. Die Kultusminister hatten, offenbar um ihre Wachheit zu demonstrieren, flugs noch vor Baubeginn die Definition für Ganztagsschulen geändert. Über Nacht hatten plötzlich auch Ganztageswüsten Hunderte Exemplare dieser Schulart. Bayern verzehnfachte seinen Anteil auf wundersame 471, Sachsen sprang von 0 auf 1.328 Ganztagsschulen. Jetzt, da das Programm des Bundes nicht mal ein Jahr alt ist, vermeldet Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) schon 3.000 weitere Ganztagsschulen.
Wie sehen diese Schulen aus? Systematische Einblicke gibt es noch nicht. Aber Heinz Günter Holtappels weiß aus den Untersuchungen seines Institutes für Schulentwicklungsforschung, wie sich die halbe ganze Schule anfühlt. Nur 3 Prozent der Lehrer an Ganztagsgrundschulen sind auch nachmittags anwesend. (Bei Sekundarschulen sind es immerhin 20 Prozent.) Und auch das Programm nach der Mittagspause ist einer echten Ganztagsschule nicht würdig. 96 Prozent der Einrichtungen geben an, Hausaufgabenbetreuung zu machen – allein, an richtigen Ganztagsschulen gibt es keine Hausaufgaben.
In der Ganztagsschulbewegung grassiert denn auch die Enttäuschung. Sicher, alle halten noch zum größten Investitionsprogramm für Schulen, das es in Deutschland jemals gegeben hat. Aber dieses Wort haben sie alle auf den Lippen: Etikettenschwindel.
Bestes Beispiel dafür ist eine Schule in Baden-Württemberg. In der 3.000er-Liste des Bundes wird sie als echte Ganztagsschule geführt – damit Bundesbildungsministerin Bulmahn Erfolge verzeichnen kann. In Baden-Württemberg selbst darf die Schule aber gar nicht so genannt werden – damit die dortige Kultusministerin Annette Schavan (CDU) nicht etwa zusätzliches Personal bezahlen muss.
Solche schlechten Erfahrungen sind allerdings nur die eine Seite. Auf der anderen steht eine frische und undogmatische Welle, die das Programm losgetreten hat. In manchen Bundesländern zum Beispiel müssen bereits jetzt Mittel verwendet werden, die eigentlich für das Jahr 2005 eingeplant waren, weil ein regelrechter Run ausgebrochen ist. Die Anträge kommen von Schulen und engagierten Rektoren. Aber die Impulse geben Sportvereine, Kirchen, Kommunen oder Zusammenschlüsse von Eltern. Laut einer Umfrage befürworten satte 70 Prozent der deutschen Eltern Ganztagsschulen.
Wiewohl das Ganztagsschulprogramm des Bundes sich aus Verfassungsgründen auf Baumaßnahmen und Einrichtung beschränken muss, wirkt es sich stets auch auf die Pädagogik aus. „Für mich fließt mit dem Programm erst mal Geld, das ich gut gebrauchen kann“, berichtet Mathias Kessler von der Dorfackerschule in Tübingen. „Aber dieses Geld setzt pädagogisch ungeheuer viel in Bewegung, es bricht die traditionelle Schule auf.“ In Kesslers Schule machte man sich schon lange Gedanken über einen geeigneteren Umgang mit Hauptschülern. Die Fördermittel des Bundes schaffen nun neue Räume und bessere Möglichkeiten. Wenn die Dorfackerschule den Zuschlag bekommt, entstehen nicht nur eine Cafeteria fürs Mittagessen, sondern auch Werkräume, ein Wintergarten und ein Zimmer für stilles Lernen. Oder einfach für Ruhe.
Räume, Ruhe, Rhythmus – das sind die drei R der Ganztagsschule, die das Lernen verändern. Bedeutet die Halbtagsschule den Versuch, im Dreiviertelstundentakt Wissensportionen in die Köpfe der Schüler zu füllen, so erlaubt es die Ganztagsschule, das Lernen zu erweitern. Zur Vermittlung soll Erfahrung hinzukommen, ein Rhythmus aus Spannung und Entspannung soll den Schultag prägen.
Für den Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer steckt darin nicht nur eine vage Möglichkeit, sondern geradezu ein Muss. Ganztagsschule bedeutet für ihn zwangsläufig den Abschied vom Lernen nach Plan. „Wir müssen in der Ganztagsschule den Stundenplan sein lassen“, sagt Spitzer. „Schule kann endlich dem nachgehen, was Schülern beim Lernen Spaß macht.“ Vielleicht wird aus dem verpönten Bikini ja bald ein interessanter Badeanzug.