: Wie die Industrie Umweltgesetze blockiert
Studie belegt: Die Industrie nutzt die Methode der Übertreibung ihrer Kostenszenarien im Kampf gegen neue Gesetze. BUND fordert von der Bundesregierung deshalb realistische Zahlen im Streit um die EU-Chemikalienverordung
BERLIN taz ■ Die Idee war gut: Gefährliche Substanzen sollten in ganz Europa durch umweltfreundlichere ersetzt werden. Die EU-Chemikalienverordnung versprach Gesundheitsschutz und Innovation zugleich. Doch dann rechnete die deutsche und französische Chemieindustrie nach. Ergebnis: Die zusätzlichen Kosten sind untragbar. Für die Volkswirtschaft. Und natürlich für sie selbst. Prompt reagierte die EU. Jetzt wird über eine stark abgespeckte Verordnung gestritten.
Sind die Bedenken der Chemieindustrie plausibel? Eine jetzt vorgelegte Studie des Internationalen Chemiesekretariats – eines Zusammenschlusses von NGOs mit Sitz in Göteborg – kommt zu einem ganz anderen Schluss: Um Argumente gegen neue Umweltgesetze zu haben, übertreiben Industrielobbys ihre Kostenschätzungen systematisch. Damit bestätigt die Studie die Kritik des Umweltrates der Bundesregierung, der Mittwoch Zahlen der Chemieindustrie als „maßlos überzogen bezeichnete (taz vom Donnerstag).
„Diese Kostenübertreibung hat Methode“, erklärt Patricia Cameron vom BUND. Die Studie analysiert die Berechnungsgrundlage der Industrie. Die verwendet zumeist statische Modelle. Dadurch wird unterstellt, dass die Industrie sich nicht an Veränderungen anpassen wird. Kein Wunder, dass bei einer solchen Annahme immens hohe Kosten herauskommen, kritisiert die Studie. Alle untersuchten Beispiele belegen, dass die Industrie sehr wohl aus gesetzgeberischen Veränderungen eigenen Nutzen ziehen kann.
14 Fälle werden analysiert. Nach gleichem Muster malte der betroffene Industriezweig jeweils zuerst Horrorszenarien, die dann von den tatsächlichen Auswirkungen der Umweltgesetze widerlegt wurden. So drohte der Industrie in den frühen 80er-Jahren die Pflicht zum Katalysator in allen neuen Autos. Bis 600 britische Pfund Mehrkosten pro Auto und einen höheren Spritverbrauch prognostizierten die Autobauer. Tatsächlich sank der Verbrauch, kostet ein Katalysator unter 50 Pfund.
Vor Verabschiedung des Montrealer Protokolls über das Verbot ozonschädlicher Substanzen 1987 prognostizierten die Chemieproduzenten enorme Kosten, Firmenpleiten, Inflation und Arbeitsplatzverlust. Außerdem gebe es in absehbarer Zukunft keine Alternative zu den Ozonschädlingen. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Die Alternativen waren oft preisgünstiger und qualitativ besser. Die globale FCKW-Reduzierung brachte kaum Kosten für die Verbraucher mit sich.
Die Studie zeigt, dass Regierungen den Industrieprognosen oft vertrauen. Auch sie selbst überschätzen die Kosten oft und unterschätzen das Innovationspotenzial – wenn auch nicht im selben Umfang wie die Industrie. Angesichts dieser Erkenntnisse fordert Cameron die Bundesregierung auf, „aus der Vergangenheit zu lernen und in den Verhandlungen um die EU-Chemieverordnung auf realistische Zahlen zu setzen“. NIKOLAI FICHTNER