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Auslese mit Grandezza

Strukturwandel des Elitenbegriffs: Wer in Deutschland etwas werden will, muss vor allem zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und die richtige Herkunft haben. Für alle anderen gilt: Entwerft Nanotechnologie-Patente und nervt nicht mit überzogenen Forderungen an die Solidargemeinschaft

Edelste Köpfe sollen Klügstes denken, sagt Guido Westerwelle, Universalgenie

VON JAN ENGELMANN

Es war keine Überraschung, dass Wolfgang Thierse dem neuen Elitendiskurs von Weimar mit Skepsis begegnete. Als letzter prominenter Vertreter eines zotteligen Gemütsmenschentums ist ihm die Aufholjagd der Parvenüs um Schröder und Fischer nicht nur wesensfremd, sondern zuwider. „Eliten“, das waren in der DDR immer entweder pharmakologisch hochgezüchtete Spitzensportler oder fette Polit-Bonzen, in deren spießigen Bungalows man nach der Wende skandinavische Pornos fand. Keine allzu attraktiven Rollenmodelle also für die Intellektuellen der Vorwendezeit, die sich als lässige Gegen-Elite zum verspannten Leistungsdenken des Regimes positionierten. In diesen Kreisen war die Attraktivität der Vorstellung, über das Erreichen beruflicher Sollwerte einer Funktionselite im Wirtschaftssystem zugeschlagen zu werden, durch die libertären Einflüsse der späten Sechziger ohnehin zerbröselt worden. Dass der Elitenkritiker Thierse heute seine warme Unbehaustheit in der politischen Klasse genießt, steht dazu nicht im Widerspruch. Seine Definition von Elite ist einfach eine andere.

Wie anders, lässt sich erahnen, wenn man Guido Westerwelles Dreikönigsrede in Gänze gelauscht hat. Dort wimmelte es nämlich nur so vor Bekenntnissen zu „Spitzenleistungen“, die allein über den Abbau bürokratischer Hemmnisse und egalitärer Luftgebäude zu haben seien. „Es kommt darauf an, dass edelste Köpfe Klügstes denken“, erklärte Westerwelle mit der Grandezza eines Universalgenies und näherte sich damit einer Elitendefinition, die so wohl auch in der Goethezeit Gültigkeit für sich beansprucht hätte. Die Auslese „edelster Köpfe“ geschah damals noch über ein Bildungssystem, dessen strukturelle Ungerechtigkeit niemand kritisieren konnte, weil weder ein laut schreiender Asta noch ein streng beobachtender Pierre Bourdieu ihr Unwesen trieben.

Heute wissen wir, dass die Ablösung von der adligen Herkunftselite um den hohen Preis einer gesellschaftlichen Nachfrageorientierung erkauft wurde, die bestimmte Wissensbestände, Charaktereigenschaften und so genannte soft skills in eine ständig wechselnde Rangliste einträgt und die individuelle Eignung für den Elitenstatus damit in eine neue Kontingenz überführt. Kanonische Auswahlkriterien gibt es in Deutschland bekanntlich nicht, kein strenges concours-System wie in Frankreich, kein Festhalten am Oxbridge-Prestige wie in England. Die hiesigen Eliten reproduzieren sich eher über ein gesellschaftlich sanktioniertes Klüngelwesen, als geschickte Netzwerker, versierte Krawattenauswähler und trinkfeste Partygänger. Dass sie dabei nicht immerfort „Klügstes denken“, sondern einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein müssen, weiß Westerwelle sicherlich aus eigener Erfahrung. Die bildungsbürgerliche Bemäntelung der Karrieren „nach 5“ macht das Ganze nur weniger anrüchig.

Dabei ist es natürlich nicht so, dass unsere Politiker jetzt ganz versessen wären auf junge Menschen, die stolz mit Kant-Jubiläumsausgaben herumfuchteln. Eher schwebt ihnen ein smarter Absolvent der Ingenieurswissenschaften vor, der mit einer tollen Erfindung den havarierten Industrietanker wieder flottkriegt. Noch besser wäre freilich ein findiger Biochemiker oder Nanotechnologe, der sich Patente erdenkt, von denen die Chinesen nur träumen können. In jedem Fall aber muss es eine Art Captain Future sein, ein Mann ohne Eigenschaften, der nicht mehr mit überzogenen Ansprüchen an die Solidargemeinschaft herumnervt, sondern permanent mit Bastelarbeiten und Optimierungsprozessen beschäftigt ist. Die FDP, der Autoaufkleberlieferant für die Führungskräfte draußen im Lande, hat das entsprechende Stichwort parat: „Verantwortungsmentalität“.

Dass diese nicht bei den herrschenden Eliten eingefordert werden kann, ist offensichtlich. Seit man als Pisa-Opfer mit aufreizender Dummheit (Modell Naddel) oder als Unternehmer mit krimineller Energie (Modell Haffa) genügend mediales Aufmerksamkeitskapital einstreichen kann, haben sich kommunitäre Appelle eigentlich erledigt. Also müssen die Erniedrigten und Beleidigten des elitären Spiels ran. Freiwilliger Lohnverzicht, der kleine Obolus in Arztpraxen und Immatrikulationsstellen sowie die Akzeptanz der neuen Zumutbarkeitsregeln bei der Erwerbsarbeit gehören von nun an zum Edelsten, was man für sein Land tun kann. Nicht umsonst werden Eliten – der Sprachgebrauch ist hier sehr feinfühlig – rekrutiert.

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