: Fakten und Vermutungen
Polizei und Überfalltelefon werden deutlich mehr Übergriffe auf Schwule gemeldet als im Vorjahr. Zu den Tätern zählen auch junge Migranten. Aktivisten fürchten nun einen Rechtsruck der Szene
von JOHANNES GERNERT
Öffentliche Diskussionen über Randgruppen werden oft behutsam geführt. Solche über Schwule beispielsweise oder über Migranten oder über Schwule und Migranten. Aktivisten warnen dann, man müsse das alles differenziert sehen. Bei aller Differenziertheit steht jedoch fest: Angriffe, die dem Schwulen-Überfalltelefon Maneo gemeldet werden, haben zugenommen. Schon jetzt ist mit 163 Fällen der Stand des gesamten Vorjahres erreicht. Auch bei der Polizei wurden schon mehr Taten mit antischwulem oder antilesbischem Hintergrund verzeichnet als 2002. Da waren es 82.
Fest steht weiterhin: Zu den meist ziemlich jungen Tätern zählen auch Migranten. „So melden das die Opfer“, sagt Bastian Finke von Maneo. Die Übergriffe geschehen „überall, wo Schwule erkennbar als Schwule auftreten“. In Schöneberg, Kreuzberg, Tiergarten oder Friedrichshain. Auch dort also, wo viele junge Einwanderer wohnen.
Die einfachste Erklärung dafür wäre, dass Schwule tatsächlich vermehrt angegriffen werden, beschimpft oder ausgeraubt. „Viele sitzen ganz brav in der U-Bahn, ohne Händchen zu halten“, sagt Finke. „Aus Angst angegriffen zu werden.“ Szenelokale oder Schwulenverbände bestätigen das nicht unbedingt. Ein Schwuz-Mitarbeiter spricht gar von „übertriebener Hysterie“. Finke beschreibt die Übergriffszahlen als Wellenbewegungen. „Momentan ist eine Welle da“, sagt er. „Nächstes Jahr kann das anders aussehen.“
Eine weitere Erklärungsmöglichkeit: Das Anzeigeverhalten der Opfer hat sich geändert. Sie wären demnach eher bereit, sich beim Überfalltelefon zu melden oder gar bei der Polizei. Immerhin kümmert sich dort seit 1992 ein Beauftragter für gleichgeschlechtliche Lebensweisen um die Belange von Homosexuellen. Uwe Löher, der derzeitige Beauftragte, nennt verschiedene mögliche Ursachen für eine erhöhte Bereitschaft zur Anzeige. Die Polizei sei „opferfreundlicher“ geworden, sie zeige „Präsenz in der Szene“ und arbeite enger mit den Verbänden zusammen. Einige Ängste kann sie Schwulen dennoch nicht nehmen. Dass sie als Homosexuelle registriert werden, wenn sie Anzeige erstatten. Oder dass es sich bei der Behörde eben doch um eine „Macho-Institution“ handle, so Finke.
Während die Polizei intensiv PR-Arbeit betreibt, tut sich Maneo schwerer: „Wir können leider kaum Werbung machen“, sagt Finke. Er fühlt sich von den schwulen Medien im Stich gelassen, weil die mehr über „Party, Kultur und Lifestyle“ schrieben als über Gewalt oder Diskriminierung. Trotzdem: Die gute Betreuung spricht sich herum. Das erzählen viele, die sich beraten lassen. Und darunter sind zunehmend mehr Homosexuelle, deren Familien aus der Türkei oder aus arabischen Ländern stammen. Migranten als Täter also und als Opfer. Sie erfahren laut Jörg Litwinschuh vom Lesben- und Schwulenverband eine mehrfache Diskriminierung. Die Familie akzeptiert die sexuelle Identität selten. In der Szene dagegen werden sie „aufs Sexarbeiter-Image reduziert“ oder als Ausländer abgelehnt. Litwinschuh arbeitet im Zentrum für Migranten, Schwule und Lesben. Daher kennt er die Situation.
Er beobachtet auch, dass Migranten verstärkt für Übergriffe verantwortlich gemacht werden: „Man darf das nicht der Political Correctness wegen verschweigen.“ Man dürfe aber genauso wenig übertreiben. Zur exakten Einschätzung seien umfassende Studien gefragt. Die gebe es bislang kaum. Litwinschuh macht zurzeit eine konservative Bewegung in den Medien aus und fürchtet „einen Rechtsruck in der schwul-lesbischen Szene“.
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