: Bedenkenloser Hochmut
Europas Solidarität mit den USA nach dem 11. September 2001 war eine durchaus brüchige. Nicht erst seit den Friedensdemos im Frühjahr übt sich der alte Kontinent im klassischen Hass auf Amerika
von RALPH BOLLMANN
Leserbriefe in solcher Fülle gab es zu einer Kurzmeldung in dieser Zeitung nie zuvor. Zwanzig Prozent der Deutschen glaubten, so die dürre Mitteilung einer Nachrichtenagentur, dass die USA den Anschlag auf die New Yorker Twin Towers selbst inszeniert hätten. „Deutsche mit Dachschaden“ lautete die tazzige Überschrift, die allerdings nicht wenige Leser als – so eine Zuschrift – „irgendwie untazzig“ empfanden.
Zumindest dies belegt die Umfrage klar: Nicht wenige Deutsche trauen den USA inzwischen buchstäblich alles zu, selbst den bedenkenlosen Mord an tausenden eigenen Staatsbürgern zur Durchsetzung längst vorbereiteter Welteroberungspläne.
In den zwei Jahren, die seit den Anschlägen vom 11. September 2001 vergangenen sind, erlebten antiamerikanische Ressentiments hierzulande ein ungeahntes Comeback. Selbst angesehene Personen des öffentlichen Lebens verstiegen sich zu bizarren Vergleichen. Nicht nur der Fernsehmoderator und Tugendpapst Ulrich Wickert setzte den amerikanischen Präsidenten auf eine Stufe mit islamischen Fundamentalisten, sogar der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche machte sich diesen Vergleich zu Eigen. Die damals amtierende Bundesjustizministerin schwadronierte gar über Parallelen zwischen George W. Bush und Adolf Hitler.
Ausgerechnet die Ministerin verkörperte ein Denkmuster, das die meisten Westdeutschen längst in der Mottenkiste altlinker Klischees wähnten. Gerade erst erinnerte der Historiker Bernd Greiner im Mittelweg, der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, daran, dass die Gleichsetzung von US-„Imperialismus“ und Nationalsozialismus während der bundesrepublikanischen „Pubertätskrise“ um 1968 weit über die engeren Kreise der revoltierenden Studenten hinaus in den Köpfen der Deutschen verankert war.
Während damals jedoch das gesamte „System“ der USA als unreformierbar galt, richtet sich die heutige Kritik vorgeblich nur gegen Bush. Der Präsident gilt vielen Deutschen als „Cowboy aus Texas“, über dessen Politik man nicht ernsthaft diskutieren müsse. Reicht dieses alteuropäisch-arrogante Argument nicht aus, verweisen die Kritiker ersatzweise auf die zweifelhaften Umstände seiner Wahl im November 2000. Sie deuteten den Respekt vor der friedensstiftenden Kraft des verfassungsmäßigen Verfahrens, mit dem die Amerikaner die Krise um die falsch gelochten Stimmkarten schließlich bewältigten, kurzerhand in ein Symptom mangelnden Demokratiebewusstseins um.
Auf diese Weise lässt sich die Präsidentschaft George W. Bushs leicht als bloßer Betriebsunfall abtun, der schon bei der nächsten Wahl im kommenden Jahr korrigiert werden kann. Doch diese Haltung könnte sich als ebenso verfehlt erweisen wie umgekehrt der Glaube vieler deutscher Ordokonservativer nach ihrer Niederlage im Herbst 1998, die Stimmbürger hätten sich lediglich „verwählt“. Solch oberflächliche Analysen rächen sich stets. Der Glaube vieler Europäer, im Verhältnis zu Amerika werde sich ohne eigenes Zutun die Idylle der Clintonjahre wieder einstellen, ist jedoch so populär wie falsch.
Wenn das Jahr 1968 die „Pubertätskrise“ der Bundesrepublik markiert, dann erlebt das Land heute so etwas wie seine „Quarterlife Crisis“: Die sorglosen Jahre einer verlängerten Jugend sind vorbei. Kurzum: Es geht darum, endgültig erwachsen zu werden – und damit auch ein abgeklärtes Verhältnis zur einstigen Vormacht und jetzigen Weltmacht USA zu finden, das nicht länger zwischen postpubertärem Trotz und voreiliger Anpassung changiert.
Zu den merkwürdigsten Symptomen dieser Krise zählt freilich eine erregt geführte Diskussion um die alliierten Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg. Erstaunt erfuhren ganze Generationen von Bundesbürgern, die mit Berichten über die Kriegsgräuel aufgewachsen waren, das Thema Bombenkrieg sei in der Nachkriegsgesellschaft „tabu“ gewesen. Seinen besonderen Appeal aber bekam die Debatte erst durch das zeitliche Zusammentreffen mit dem US-Angriff auf Bagdad, das zu Vergleichen mit dem Feuersturm in Dresden oder Hamburg geradezu einlud: Ist es ein Zufall, dass beide Debatten – die um die Verbrechen des Kriegs wider die Deutschen und jene um die Gräuel der Amerikaner an und für sich – zeitgleich geführt worden sind?
Zu dieser Koinzidenz gehört, dass im Vorfeld des Irakkriegs viele Europäer (und sehr viele Deutsche) klagten, in der „formierten“ US-Gesellschaft werde Kritik an der Regierungspolitik kaum noch öffentlich geäußert. Dass es in dieser Frage auch auf dem Territorium des „alten“ Europa nur noch eine einzige Meinung zu geben schien, fiel gar nicht mehr auf. Die naheliegende Frage blieb tatsächlich tabu: Strömten die Europäer auch deshalb begeistert zu diesen Demos, weil der gemeinsame Gegner half, eigene Probleme zu verdrängen?
Um den Irak ging es bei den Protesten ja nur am Rande. An den anderen Weltregionen sind die Europäer, seit sie mit ihrem eigenen Kolonialismus – auch auf dem jetzigen Territorium der USA – Schiffbruch erlitten, nur noch am Rande interessiert. Am wenigsten die Deutschen. Das zeigt schon die klammheimliche Freude vieler Kriegsgegner über die chaotischen Zustände, die nach dem US-Einmarsch an Euphrat und Tigris herrschen.
Wichtiger als das Schicksal der Einwohner von Bagdad oder Basra ist das wohlige Gefühl, mit den Argumenten gegen den Krieg Recht behalten zu haben. Was schert es die Kriegsgegner schon, dass sich die heutigen Probleme im befreiten Irak, verglichen mit dem prognostizierten „Flächenbrand“ im Nahen Osten, vergleichsweise bescheiden ausnehmen?
Nicht eben erbaulich war freilich auch das Schauspiel, das die wenigen Kriegsbefürworter hierzulande boten. Von der CDU-Chefin Angela Merkel bis zum SPD-Außenpolitiker Hans-Ulrich Klose hatten sie argumentativ nicht viel mehr zu bieten als eine naive Fortschreibung der Kaltekriegsrhetorik, wonach die Europäer aus Dankbarkeit für die Befreiung 1945 für alle Zeiten auf Widerworte zu verzichten hätten. Dankbarkeit indes war in der internationalen Politik noch nie eine tragfähige Kategorie.
Als schal haben sich auch die spontanen Bekundungen „uneingeschränkter Solidarität“ gleich nach dem 11. September erwiesen. „Wir sind alle Amerikaner“, hieß es. Das war kaum mehr als ein wohlfeiler Solispruch: Obwohl in Bali oder Djerba, New York oder Afghanistan auch Europäer dem Terror zum Opfer fielen, ist der alte Kontinent nicht wirklich alarmiert, sieht er diese Attentate nicht als Attacken auf den freien Westen. Europa mag sich auf die neue Wirklichkeit lieber nicht einlassen.
Entsprechend pflichtschuldig werden die Al-Qaida-Prozesse in Deutschland geführt. Die hiesige Justiz vespürt zwar ein latent schlechtes Gewissen, weil sie die mutmaßlichen Attentäter in Deutschland vor dem Terror auf die Twin Towers gewähren ließ – und verhängt deshalb hohe Strafen. Wirklich berührt fühlt man sich vom Wahn islamistischer Kader offenbar nicht – das ist der Grund, weshalb die Intensität der Sicherheitsdebatten in den USA und in Europa so differiert.
Schon während des Kalten Krieges konnten sich die Sicherheitsinteressen von Amerikanern und Europäern durchaus unterscheiden, weshalb die Deutschen damals die Initiative zu ihrer Ostpolitik ergreifen konnten. Durch den Untergang des gemeinsamen Gegners Sowjetunion sind die Differenzen gewiss nicht kleiner geworden. Während Bill Clinton den wachsenden Abstand geschickt überspielte, nimmt die Bush-Regierung auf die Selbstfindungsprobleme der Europäer keine Rücksicht mehr.
Diese Divergenzen gilt es zu konstatieren, statt sich gleich in eigene Allmachtsfantasien zu versteigen. Schon träumen europäische Intellektuelle von einer völlig eigenständigen Rolle des Kontinents, womöglich in einem neuen Fünfmächtegleichgewicht mit den USA, Russland, China und Indien. Aber müssen sich die Europäer nicht ernsthaft fragen, ob sie an der fragilen Konkurrenz mit Ländern von teilweise zweifelhafter demokratischer Kultur wirklich interessiert sein können?
Nachdenklichen Kritikern der Bush-Administration dämmert endlich, dass den Europäern an einem Kontinuum amerikanischer Hegemonie gelegen sein muss. Nur die Dominanz der USA garantiert, dass die bestehenden Konflikte regional begrenzt bleiben – ob in Liberia, Ruanda oder im Nahen Osten.
Dass die Europäische Union diese Rolle auch nur partiell übernehmen könnte, bleibt einstweilen Wunschdenken. Der wahre Grund für Amerikas Stärke liegt in seiner Tradition als Einwanderungsland multikultureller Prägung, das seine Attraktion weit über die eigenen Grenzen hinaus entfalten kann. Damit werden sich die (ethnisch nach wie vor fast homogenen) Europäer selbst bei einer forcierten Zuwanderungspolitik so schnell nicht messen können.
Faktoren dieser Art spielen in der europäisch-amerikanischen Debatte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es ist gewiss kein Zufall, dass die Europäer ihre Selbstvergewisserung in den Antikriegsdemos just zu einem Zeitpunkt suchten und fanden, zu dem sie selbst die wohl tiefste innenpolitische Krise der Nachkriegsgeschichte durchleben. Von Helsinki bis Lissabon stecken ihre Systeme der sozialen Sicherung in einer tiefen Krise. In den ermüdenden Debatten über Renten oder Kündigungsschutz verschaffte der Protest gegen den Irakkrieg den beleidigten Europäern eine kommode Pause.
Aber auch auf diesem Feld finden sich die USA in der europäischen Debatte als Angeklagte wieder. Viele Globalisierungskritiker machen den Vormarsch des so genannten Neoliberalismus, vorangetrieben von US-amerikanischen Konzernen, für die Krise des Sozialstaats verantwortlich. Ganz so, als wären es nicht Veränderungen von Demographie oder Arbeitswelt selbst, die nach neuen Antworten verlangen – oder auch die zunehmende Konkurrenz aufstrebender Ökonomien wie China oder Indien, die unter dem Gesichtspunkt einer gerechten Globalisierung doch eigentlich erwünscht sein müsste.
Wollen die Europäer die pubertären, besser: unpolitischen Züge aus ihrem Verhältnis zu Amerika tilgen, dann sollten sie sich über Unterschiede wie Gemeinsamkeiten nüchtern Rechenschaft ablegen. Mit Bekundungen eines mafios inspirierten Freundschaftsbegriffs, wie sie der Italiener Silvio Berlusconi gegenüber George W. Bush praktiziert, ist es dabei ebensowenig getan wie mit einer Außenpolitik von der Rednertribüne des Wahlkämpfers.
Eines können die Europäer aber auf absehbare Zeit nicht ändern: Sie werden die Amerikaner kaum überzeugen, dass alle Welt bei der Wahl des US-Präsidenten mitreden darf. Aber vielleicht ist diese Personalentscheidung in der ältesten Demokratie der Welt auch besser aufgehoben als bei einer Weltgemeinschaft, in deren Parlament – der UN-Vollversammlung – überwiegend Diktatoren sitzen. Auch im alten Rom dauerte es lang, ehe auch die Bewohner der Provinzen das Bürgerrecht erhielten. Profitiert haben sie von den Segnungen der Pax Romana trotzdem.
RALPH BOLLMANN, 34, taz-Inlandsressortleiter, nahm an keiner Friedensdemo teil. Einen Schlüsselanhänger mit „Pace“-Fahne hat er nur als Erinnerung an den Italienurlaub