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Der Erhalt des Schockpotenzials

Was im Ungezeigten alles an Grausamkeiten mitschwingt: Susan Sontags Essay „Das Leiden anderer betrachten“

Aufstecken ist Susan Sontags Sache nicht. „Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen“, schreibt sie so ziemlich am Ende ihres jetzt auf Deutsch erschienenen Essays „Das Leiden anderer betrachten“. Mögen die Bilder nur Ausschnitte sein und die Realität nur unvollständig erfassen, so sagen sie doch: „Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergesst das nicht.“

Hat man den Essay bis zu dieser Stelle gelesen, so kommt dieser Appell fast ein bisschen überraschend. Denn Sontag analysiert, warum die Kriegsfotografie und die Kriegsberichterstattung des Fernsehens mit ihren laufenden Bildern nur einen Teil der schrecklichen Wirklichkeit eines Krieges abbilden. Vor allem aber analysiert sie, wie schwer es tatsächlich ist, mitfühlend, mitleidend, vielleicht sogar mitdenkend das Leiden anderer gerade auf Fotos zu betrachten und dann zu intervenieren, zu handeln, Konsequenzen zu ziehen, wenn möglich pazifistische.

Gründe gibt es viele, sie gehören mitunter zu den Standards der Medienkrititk: Das gestellte Kriegsfoto, das geschönte Kriegsfoto, das zensierte Kriegsfoto, die Flüchtigkeit von Bildern, die Faszination, die sich beim Betrachten von Kriegsbildern einstellt, die verführerische Wirkung des Krieges, das Abstumpfen bei einem Zuviel an Bildern, aber auch die Enttäuschung, wenn sich Bilder als inszeniert herausstellen – Susan Sontag lässt nichts aus und leuchtet die Problematik vor allem der Kriegsfotografie von allen Seiten aus. Sie geht bis an ihre Anfänge zurück, in den Krimkrieg, in den amerikanischen Bürgerkrieg, betrachtet Callot und Goya, die großen Kriegsmaler aus dem 17. und frühen 19. Jahrhundert, und sie begegnet mit dem gebotenen Misstrauen auch den Bildern, die nichts anderes als gut gemeint und aufrüttelnd sein sollen, denn: „Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein ‚Wir‘ als selbstverständlich vorraussetzen.“

Und: Wo es um den Krieg geht, gehört zu diesem „Wir“ jeder, der nie etwas von dem erlebt hat, was Kriegsteilnehmer, seien es nun Soldaten, Journalisten, Zivilisten oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, durchgemacht haben. Wir aber können uns nicht vorstellen, wie schlimm Krieg ist. Ein Verständnis, ein Sichhineinversetzen, gehört da zu den allerschwierigsten Übungen.

Trotzdem gilt es für Sontag, auch in den gestellten oder geschönten Fotos die Kriegsrealitäten zu entdecken, sich in von Künstlern arrangierte Antikriegsbildern wie beispielsweise Jeff Walls „Dead Troops Talk“ anteilnehmend zu versenken oder sich wenigstens immer die Frage zu stellen, was im Ungezeigten mitschwingt, „welche Bilder, wessen Grausamkeiten, welche Tode nicht gezeigt werden“. Dafür unterzieht sie auch ihre Auffassungen, die sie in ihrem dreißig Jahre alten Essayband „Über Fotografie“ entwickelt hat, einer kritischen Revision. In deren Zentrum stand seinerzeit die Manipulation durch die Medien, ihr Abstumpfungspotenzial und die Verteidigung der Wirklichkeit. Heute widerspricht sie der These von der Wirklichkeit als Spektakel und glaubt, dass es Millionen von Fernsehzuschauern gebe, die den Bildern keine Gleichgültigkeit entgegenbringen, da sie selbst von Kriegshandlungen betroffen sind: „Den Luxus einer Konsumentenhaltung gegenüber der Wirklichkeit können sie sich nicht leisten.“

Mag Sontag am Ende auch skeptisch erwähnen, dass Romane und Erzählungen vielleicht doch wirksamer sind als Bilder –ihr Buch enthält aus gutem Grund auch keines – und geeigneter dafür, sich aktiv gegen Krieg einzusetzen, so gibt es keinen Zweifel: Anders als das geschriebene Wort sind Bilder inzwischen allgegenwärtig. Ihr sozusagen positiv gewendetes Schockpotenzial gilt es zu erhalten oder freizulegen.

GERRIT BARTELS

Susan Sontag: „Das Leiden anderer betrachten“. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser, Hanser Verlag, München 2003, 151 Seiten, 15,90 €

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