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Archiv-Artikel

DER RELIGIÖSE FAKTOR IN DER US-POLITIK Die Faust des Gerechten

Ein amerikanischer Intellektueller reflektiert das heutige Image der USA in der Welt und erklärt, warum es unabdingbar ist, das Verhältnis ihrer politischen Klasse zur Religion zu verstehen.

Von LEWIS H. LAPHAM *

VERGANGENEN Winter, in den Wochen bevor die Dritte US-Infanteriedivision am 21. März im Euphrattal vorrückte, hatte ich mehrfach Gelegenheit, nach Europa zu reisen. Dabei sah ich mich in vier Ländern und fünf Sprachen mit antiamerikanischen Gefühlen konfrontiert, die mit der Zeit immer heftiger und erbitterter wurden. Zeitungen und Fernsehen berichteten tagtäglich über die gescheiterten diplomatischen Bemühungen in den Vereinten Nationen. Und wo immer ich ins Gespräch kam, in einem Restaurant in Paris oder in einem Londoner Park, im Zug von Genf nach Zürich oder in einer Hotelbar in Rom, kaum waren die üblichen Floskeln über Verkehr und Wetter ausgetauscht, wurden die Fragen immer feindseliger: Haben wir es auf die irakischen Ölfelder abgesehen? Will das Pentagon neue Waffensysteme ausprobieren? Haben die USA ernsthaft die Absicht, inmitten der mesopotamischen Wüste eine potemkinsche Demokratie zu errichten? Wird die Politik des Weißen Hauses von Anhängern der Großisrael-Idee gesteuert? Hat Colin Powell eigene Gedanken und Überzeugungen, oder ist er eine Art aufziehbare Marionette, die bei Pressekonferenzen vorgefertigte humanitäre Betroffenheitsbotschaften ableiert? Und Präsident Bush – ist er ein tolldreister Dieb oder ein gottesfürchtiger Rüpel?

Solche Sarkasmen entsprechen der Karikatur, die von führenden Köpfen der gehobenen europäischen Bewusstseinsindustrie schon immer verbreitet wurde und die Amerikaner als brutale Materialisten zeichnet: nüchtern und pragmatisch, technologisch Spitze, aber ohne jede Kultur, rastlos hinter dem Geld her und hemmungslos dem Konsum verfallen, eine Nation von Philistern, die nicht zwischen Beethoven und Molière, aber zwischen Gewinn und Verlust unterscheiden kann.

Die europäischen Intellektuellen begehen den Irrtum, uns als säkulares Volk darzustellen, das sich dem Diktat von Zahlen und Fakten unterwirft, als Erben der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die auf die empirische Methode schwören und an Voltaires „Prinzip der universellen Vernunft“ festhalten. Doch diese Karikatur übersieht die mannigfachen Spielarten religiöser Erfahrung in den USA; und selbst die Briten sehen darüber hinweg, dass Jehova nicht nur in Texas oder Tennessee, sondern mitten im Kongress von Washington munter und lebendig – und häufig ziemlich zornig – ist. Nach Meinungsumfragen bezeichnen sich 46 Prozent der US-Bürger – wie George W. Bush – als evangelikale Christen, das heißt als „wiedergeboren“ und damit schon der Erlösung gewiss; 48 Prozent lehnen die Evolutionstheorie als Ketzerei ab, 68 Prozent glauben, sie seien schon einmal dem Teufel begegnet. Mehr als 50 Millionen lesen Romane, die dem Leser die Wiederkunft des Herrn verklickern wollen. Justizminister John Ashcroft verkündete: „Wir haben keinen König außer Jesus.“ Und Tom DeLay, der republikanische Fraktionschef im Repräsentantenhaus glaubt sich von Gott berufen, die „biblische Weltanschauung“ in der amerikanischen Politik zu stärken, wonach nur das Christentum lehre, wie man „mit den Realitäten dieser Welt zurechtkommen“ könne.

Wenn ich in Paris oder London nach den Zielen der USA im Irak gefragt wurde, erschien es mir meist unabdingbar, mit der Unterscheidung zwischen säkularer und religiöser Außenpolitik zu beginnen. Auch die europäische Wählerschaft weiß zumeist nicht viel über Grenzstreitigkeiten oder Handelsdispute, aber zumindest ist allen klar, dass Konflikte zwischen Staaten stets mühselig und historisch vorbelastet sind, dass meist heftig über finanzielle Details gestritten wird und dass in der Regel Doppelzüngigkeit, Heuchelei und Gemeinheit im Spiele sind. Wir Amerikaner streben immer nach „moralischer Klarheit“, und wenn die Karten neu gemischt werden, dann bitte auf möglichst dramatische Art, eben wie im Film: ein Krieg, der das Ende aller Kriege bedeutet, nach einem Drehbuch mit erbaulichen Parabeln und Dialogen im Predigerton.

Schon der Krieg gegen die Mexikaner in den 1840er-Jahren wurde unter der Flagge einer transzendenten Außenpolitik geführt, denn nach der Prädestinationslehre konnten die Amerikaner gewiss sein, dass Gott selbst ihre Pferde und Kanonen gesegnet hatte. Horace Greeley modernisierte 1859 diese Lehre, um mit ihr das Niedermetzeln der Prärieindianer begründen zu können: „Diese Leute müssen aussterben – es kann ihnen niemand helfen. Gott hat diese Erde denen gegeben, die sie sich untertan machen und sie zu kultivieren verstehen; es wäre vermessen, sich seinem gerechten Auftrag zu widersetzen.“ Präsident Woodrow Wilson führte das Land unter dem Banner eines Kreuzzugs in den ersten Weltkrieg des zwanzigsten Jahrhunderts und präsentierte 1919 seine „Vierzehn Punkte“ auf der Pariser Friedenskonferenz mit der Begründung: „Amerika hat das unendliche Privileg, seine Bestimmung zu erfüllen und die Welt zu retten.“ Schon damals hatten die Europäer Mühe, das besondere amerikanische Verhältnis zur göttlichen Vorsehung zu begreifen. Nachdem der französische Premierminister Georges Clémenceau den ersten Entwurf der „Vierzehn Punkte“ gelesen hatte, sah er vom Blatt auf und sagte: „Selbst der Allmächtige hat sich auf zehn beschränkt!“

So gesehen war es ein kleines Wunder, dass Präsident Bush am Abend des 6. März nicht in Zungen redete, als er im Weißen Haus die bevorstehende Strafaktion gegen den Irak ankündigte. Sein Thema war geopolitischer Natur, aber die Botschaft war religiös, die starre Leere in seinem Gesicht ähnelte auf beunruhigende Weise dem entrückten Blick eines Gläubigen, der in den Spiegel der Ewigkeit schaut. Zuerst las er aus einem alttestamentarischen Text, und dann, als er die Fragen der Schriftgelehrten und Pharisäer beantwortete, legte er Zeugnis ab von einer auf vier Säulen des heiligen Zorns fußenden Offenbarung: 1. Die Vereinigten Staaten stehen mit Christus im Bunde und ziehen in den Krieg, um die Welt vom Bösen zu befreien. 2. Der Irak ist Sodom und womöglich auch Gomorrha. 3. Saddam ist ein Lakai des Teufels. 4. Jedes Land, dass sich weigert, der „Koalition der Willigen“ beizutreten, verdient, in der Wüste des Unglaubens zu verschmachten.

Auch die Biografen des Präsidenten geben Sätze von sich, die sich anhören, als entströmten sie dem Brunnen Salomons. Da ist von „stählerne Gelassenheit im Zentrum des Sturms“ die Rede, von „seiner Mission, die der großen Vision der göttlichen Vorsehung folgt“, vom „demütigen Führer eines großen Landes“, vom „Bruder in Christus“. Seiner eigenen oder der Eingebung seiner Redenschreiber folgend, lässt der Präsident, wenn immer er vor ein Mikrofon tritt, keine Gelegenheit aus, die frohe Botschaft in biblischer Sprache zu verkünden: „Die Freiheit, die wir meinen, ist nicht Amerikas Geschenk an die Welt, sie ist Gottes Geschenk an die Menschheit.“ Oder: „Wir kennen nicht alle Wege der Vorsehung, aber wir dürfen uns ihnen anheimgeben und vertrauen auf den liebenden Gott, der hinter allem Leben und hinter aller Geschichte steht.“ Oder auch: „Die Besatzung der Raumfähre Columbia ist nicht wohlbehalten zur Erde zurückgekehrt. Aber wir können dafür beten, dass sie alle heimgekehrt sind.“ Oder die apokalyptische Drohung: „Zur Verteidigung unserer großen Nation werden wir Tod und Gewalt in alle vier Himmelsrichtungen tragen.“

Ich bezweifle nicht, dass der Präsident irgendwo auf einer Landstraße in Texas oder an einem Teich in Maine das große Licht gesehen hat, aber ich kann dem, was er sagt, nicht mehr Sinn entnehmen als dem Rauschen des Regens oder dem Rascheln der Blätter. Ich führe mein Versagen auf meine frühe – nach Geist und Inhalt völlig säkulare – Erziehung zurück. Meine erste Sonntagspredigt hörte ich im Alter von 13 Jahren in der weißgoldenen Kapelle einer Internatsschule in Neuengland, und am Ende applaudierte ich kräftig, wie ich es von Abschlussfeiern und politischen Versammlungen her gewohnt war. Ich wuchs in der Überzeugung auf, die Gründerväter der amerikanischen Republik verdienten unsere Hochachtung vor allem für ihren enormen Intellekt und die Kühnheit ihrer Experimente. Deshalb habe ich stets gedacht, die Verbeugungen der Politiker vor Altar und Kreuz sei nur eine höfliche Geste, die der Verstand dem Aberglauben zollt. Der Kandidat ist auf Stimmenfang und will das lokale Kunsthandwerk nicht heruntermachen oder falsch herum um den Totempfahl laufen.

Präsident Ronald Reagans plakative Religiosität konnte man noch als Zugeständnis an die Christenscharen verstehen, aber wie sollte ich einem europäischen Publikum erklären, warum die USA sich anschickten, im Irak die Schlacht von Armageddon zu schlagen? Mir blieb nichts anderes übrig, als Bushs messianische Erklärungen wörtlich zu nehmen. Meine Gesprächspartner glaubten ausnahmslos, ich mache Witze, und ich hatte größte Mühe, ihnen den Zusammenhang zwischen dem Traum des Evangelisten vom Paradies und der Vision des Politikers vom neuen Utopia zu verdeutlichen. Beide Prophezeiungen wollen uns nach Immobilienspekulantenart einreden, was wir glauben wollen und was einfach nicht da ist: Saddam Husseins Arsenal von Atomwaffen, die Invasion der vietnamesischen Armee am Strand von Waikiki oder der perfekte Orgasmus auf Bestellung dank Christina Aguilera. Die ausländischen Beobachter, die unsere unstillbare Gier nach Waren und Dienstleistungen bemängeln, haben nichts verstanden. Die materiellen Gegenstände sollen nur unsere ersehnten immateriellen Erfolge bezeugen.

Bei Gott, was ich verspreche, das halte ich

ES geht nicht darum, was man mit Geld alles kaufen kann, sondern darum, was das Geld über unseren Rang und unsere Stellung in der Gemeinschaft der Erlösten aussagt. Voller Sehnsucht nach Visionen selbst noch im Dschungel des Konsums, fallen wir auf jede Werbung herein, die uns aus dem Schiffbruch des Lebens zu retten verspricht. Weil wir das Immaterielle und Unsichtbare lieben, die Namen der Dinge wichtiger als die Dinge finden, kann man uns Geländewagen und Seife verkaufen; eine ganze Litanei bedeutungsloser Modewörter – weltlicher wie geistlicher, literarischer wie wissenschaftlicher, politischer wie ökonomischer – dient der Beschreibung von geistigen Reichen, die gar nicht existent sind. Die erfolgreichsten Propheten des sexuellen Glücks und des sozialen Wandels wissen heute, dass sie unangenehme Fakten umso weniger beachten müssen und umso müheloser in die Sphären strahlender Abstraktion entschweben können, je weniger sie über das betreffende Thema wissen.

Diese meine revisionistische Darstellung des wahren Amerikaners als geborenen Dichters und natürlichen Metaphysikers stieß in Italien, Frankreich, England und der Schweiz auf Ungläubigkeit,weil niemand wahrhaben wollte, wie gefährlich weit sich Amerika bereits von seinem Ankergrund in der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts gelöst hat. Die wütende Kritik an unserem Präventivschlag gegen den Irak entsprang einem Gefühl der Enttäuschung und Desillusionierung. Was war aus den Ideen Thomas Paines geworden? Was aus der Hoffnung auf eine demokratische Republik, gegründet auf die Naturgesetze und die Herrschaft der Vernunft? Wo war die Weitsicht eines Abraham Lincoln, der humanitäre Idealismus eines Franklin D. Roosevelt geblieben?

Die Antworten auf diese Fragen sind wenig beruhigend. Der Anblick von Präsident George Bush, der den Vier Reitern der Apokalypse die Faust des Gerechten entgegenstreckt, bringt mich nicht auf die politische Theorie eines James Madison. Mir drängt sich stattdessen das Bild von Jonathan Edwards auf, wie er im kolonialen Massachusetts vor einer Versammlung von Sündern wettert: „Der Bogen von Gottes Zorn ist gespannt, und der Pfeil liegt auf der Sehne, und seine Gerechtigkeit lenkt den Pfeil auf eure Herzen.“ Oder das Bild von al-Hajjaj, der im Jahre 694 die Regierung Bagdads übernahm und dessen Botschaft shock and awe verbreiten sollte: „O Menschen des Irak … bei Gott, ich werde euch entkleiden wie den Baum seiner Rinde, ich werde euch schnüren wie ein Reisigbündel, ich werde euch schlagen wie ein flüchtiges Kamel … Und bei Gott, was ich verspreche, das halte ich; was ich beschließe, das erreiche ich; was ich messe, das schneide ich ab.“

Die Begründer der Freiheit Amerikas waren Entdecker neuer Pflanzen und Sterne, sie erfreuten sich an dem, was Thomas Jefferson „die unnachahmliche Freiheit des menschlichen Geistes“ nannte, sie machten ihre wissenschaftlichen und philosophischen Entdeckungen, indem sie die Quellwasser des Missouri kartografierten oder den Durchgang der Venus vor der Sonne studierten: Benjamin Franklin (Autor, Drucker, Erfinder, Staatsmann), William Bartram (Botaniker), Thomas Paine (Essayist, Ingenieur), Benjamin Rush (Arzt, Apotheker), Thomas Jefferson (Autor, Architekt, Diplomat, Agronom). Für Priester hatten sie keine Verwendung. Und auf der Trennung von Kirche und Staat bestanden sie nicht etwa deshalb, weil sie einen nachteiligen Einfluss der Staatsmacht auf die Religion befürchteten, sondern weil sie sensiblerweise von einem schädlichen Einfluss der Religion auf das Staatswesen ausgingen. Eingedenk der europäischen Religionskriege, des Massakers der Bartholomäusnacht, der Scheiterhaufen der römisch-katholischen Inquisition und der bluttriefenden Insignien der mittelalterlichen Kreuzzüge verglich Jefferson die Religion mit einer Tyrannei „die der Menschheit schweres Leid zugefügt und die der Geschichte über zehn bis zwölf Jahrhunderte so viele Grausamkeiten beschert hat, dass sich eine Beteiligung an der Regierung von selbst verbietet“.

Die Erfinder der amerikanischen Idee waren von einer grenzenlosen Neugierde auf alle großen und kleinen Dinge beseelt. Es ging ihnen um die Erkenntnis der Menschheit auf so vielen Gebieten, wie sie in der Philadelphia Library Company oder der Bostoner philosophischen Gesellschaft unterbringen konnten. Wobei sie stets hofften, eine Regierung auf die Prinzipien der universellen Vernunft zu gründen, und zwar (um noch einmal Voltaire zu zitieren) „trotz all der Leidenschaften, die dagegen ankämpfen; der Tyrannen, die sie in Blut zu ersäufen trachten; der Betrüger, die sie durch Einsatz des Aberglaubens zu Fall bringen wollen“.

Präsident Bush gehört zu einer früheren Epoche der amerikanischen Geschichte, er spricht wie von einer Kanzel im puritanischen Wald, lange bevor die ersten Bücher in der neuen Welt eintrafen. Wenn wir seinen Biografen glauben dürfen, sitzt jetzt im Weißen Haus ein Präsident, der so felsenfest davon überzeugt ist, dass die menschlichen Geschicke „in den Händen eines gerechten und getreuen Gottes“ liegen, dass er seine Unwissenheit für eine Tugend hält und seinen Mangel an Neugierde für ein Zeichen moralischer Stärke.

Ein ähnlich primitives Denken – furchterfüllt, intolerant, magisch – verdunkelt das Gehirn der Schamanen, die im Pentagon ihre Pläne zur Beseitigung des Bösen ausbrüten, oder im Justizministerium, im Kongress und im Obersten Gericht die Herrschaft der Tugend über das US-Gemeinwesen zu errichten suchen. Der kollektive Rückzug in die Nebel einer vereinfachten Vergangenheit verweist auf die zunehmende Erschöpfung jener aufgeklärten Mentalität, der wir die Verfassung verdanken und die 200 Jahre lang das amerikanische Experiment der Freiheit befördert hat. Unsere Geopolitiker in Washington stellen sich den Krieg gegen den Terrorismus bevorzugt als clash of civilizations vor. In Wirklichkeit steuern sie uns auf einen Zusammenstoß des Aberglaubens zu. Und wenn ich sie höre, habe ich das Rasseln gefiederter Trommeln im Ohr und das Tröten urzeitlicher Bronzehörner.

deutsch von Robin Cackett