: „Beginn einer Welle von Kriegen“
Interview KATRIN SCHNEIDER
taz: Sie haben den Krieg im Irak zu Beginn der Bombardierungen als unrechtmäßig verurteilt und davor gewarnt, dass er lange dauern und zu einer erheblichen Destabilisierung der gesamten Region führen könne. Nun haben die Amerikaner das Regime von Saddam Hussein gestürzt, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Wie erklären Sie das für viele doch unerwartet schnelle Ende des Krieges?
Elias Khoury: Die Iraker haben keine Luftwaffe, und die Generäle haben anscheinend vor der Übermacht der USA kapituliert. Die Amerikaner haben sich den schwächsten Gegner ausgesucht, um ihren anderen „Feinden“ eine Lektion zu erteilen. Der Krieg ist Teil eines imperialistischen Projekts, das auf einer fundamentalistischen, irrationalen Ideologie beruht. Für die Bush-Administration ist der Krieg im Irak der Beginn einer Welle von Kriegen. Ich glaube, er ist Teil einer globalen Strategie, die das Ziel hat, nicht nur die arabische, sondern die gesamte Welt zu beherrschen. Und interessant ist doch, dass die Plünderungen des Nationalmuseums und der öffentlichen Bibliothek zugelassen wurden, während das Ölministerium geschützt wird. Das sagt viel über die wahren Interessen in diesem Krieg aus. Es geht um die Besetzung des Landes, und jede Art von Besetzung ruft in der einen oder anderen Form Widerstand hervor, das ist etwas sehr Natürliches. Wie dieser Widerstand aussehen wird, ist nicht vorherzusagen, man kann nur hoffen, dass er auf der Basis eines nationalen Projekts stattfinden wird.
In den letzten Tagen wurden Bilder von Folterkammern gezeigt und befreite Gefangene interviewt. Nun werden Stimmen laut, die die Argumente und Vorhersagen der Kriegsgegner kritisieren und fragen, ob das Ziel der Amerikaner, das Regime Saddam Husseins zu stürzen, nicht doch berechtigt war. Was halten Sie von dieser Diskussion?
Die Verbrechen von Saddam Hussein waren seit langem bekannt. Die arabischen Intellektuellen und die arabische Zivilgesellschaft, zumindest das, was von ihr übrig geblieben ist, kämpfen seit langem für Demokratie und Menschenrechte, und gegen Diktatoren wie Saddam Hussein, Ghaddafi oder die beiden Assads in Syrien. Aber die Amerikaner sind meines Erachtens nicht an Menschenrechtsfragen in der arabischen Welt interessiert. Die amerikanische Politik basiert nicht auf demokratischen Werten, sondern auf Interessen und Macht. Dieser Krieg im Irak ist Teil eines imperialistischen Projekts und einer strategischen Allianz zwischen den Vereinigten Staaten und Israel. Wenn von Menschenrechten gesprochen wird, werden die besetzten Gebiete Palästinas nie erwähnt, schlimmer noch, Verteidigungsminister Rumsfeld spricht von der Westbank erst gar nicht als von einem besetzten Gebiet. Und beim Thema Massenvernichtungswaffen wird nie von den Atombomben, über die Israel verfügt, gesprochen.
Erwarten Sie, dass als nächstes Syrien und der Iran angegriffen werden?
Es ist im Moment schwer vorherzusagen, ob es einen militärischen Angriff geben wird. Aber es ist sicher, dass die Amerikaner die Pax Americana in der Region durchsetzen und die arabischen Staaten dazu zwingen wollen, das Unakzeptierbare zu akzeptieren, nämlich die Gründung eines Staates Palästina, der kein wirklicher Staat ist, weil er kein zusammenhängendes Staatsgebiet hat.
Sie sind Herausgeber der Kulturbeilage der Beiruter Tageszeitung „an-Nahar“. Welche Rolle sollten Ihrer Meinung nach Intellektuelle in der aktuellen Situation spielen?
Auch wenn die derzeitige Situation sehr pessimistisch stimmt, glaube ich doch, dass das, was Antonio Gramsci einmal über den Pessimismus der Vernunft und den Optimismus des Willens gesagt hat, funktioniert. Die Amerikaner haben diesen Krieg moralisch verloren, bevor sie ihn begonnen haben, und dadurch haben sie etwas sehr Wichtiges in der ganzen Welt hervorgerufen. Die internationale öffentliche Meinung, wie sie sich in den großen Demonstrationen in Berlin, London oder Madrid gezeigt hat, hat die fundamentalistische These von einem Krieg der Zivilisationen, die dem derzeitigen amerikanischen Diskurs zugrunde liegt, zunichte gemacht. Das gibt zu Hoffnungen Anlass. Ich glaube, überall auf der Welt stehen Intellektuelle jetzt vor der riesigen Herausforderung, ein moralisches Bewusstsein gegen die kommende Welle von Kriegen zu schaffen, die uns ins 19. Jahrhundert zurückwerfen würde mit all seinen religiösen und nationalistischen Diskursen. Arabische Intellektuelle haben darüber hinaus noch die große Aufgabe, den Kampf für Demokratie und Freiheit in der arabischen Welt weiterzuführen.
Wie kann die internationale Gemeinschaft die Zivilgesellschaft in der arabischen Welt unterstützen?
Wir brauchen nicht die Hilfe von Regierungen, sondern die Unterstützung und Solidarität der Zivilgesellschaft in den europäischen Staaten für unseren schwierigen Kampf für Demokratie und Menschenrechte. Wir wollen gehört und verstanden werden. Vor einem Monat wurde zum Beispiel der syrische Oppositionelle Riad Turk freigelassen, der 17 Jahre im Gefängnis verbracht hat. Er ist unser Nelson Mandela, aber kaum jemand schreibt über ihn. Es gibt eine riesige kulturelle Bewegung in der arabischen Welt, die im Westen nicht wahrgenommen wird.
Kann die Literatur eine Rolle in dem Prozess des Verstehens spielen?
Ja, auf jeden Fall, der Literatur kommt sogar eine sehr wichtige Rolle zu, weil sie nicht lügt, so wie es in den Medien geschieht. In der New York Times wurde zum Beispiel das Bild eines amerikanischen Soldaten gezeigt, der ein irakisches Kind in den Händen hält, dessen Mutter gerade getötet wurde. Aber es wurde natürlich nicht geschrieben, dass die Mutter von den Amerikanern getötet wurde. (Siehe Fotos auf dieser Seite. Anm. d. Red.) Literatur erzählt von den wirklichen Schmerzen und Kümmernissen der Menschen, sie lügt nicht.
Eines der Hauptthemen in Ihren Romanen ist die kollektive Erinnerung. Sehen Sie in der Bewahrung von Geschichte und einem kollektiven Gedächtnis Ihre Aufgabe als Schriftsteller?
Ein Schriftsteller kann verschiedene Dinge tun, aber Erinnerung ist neben der Fantasie sehr wichtig. Die Aufgabe von Schriftstellern, von Poeten oder von Künstlerin ganz allgemein ist es zum einen, die Vergangenheit und die Erinnerung daran zu verteidigen und dafür zu sorgen, dass sie nicht nostalgisch verklärt oder durch einen dominierenden ideologischen Apparat zerstört wird. Zum anderen wird durch die Fantasie, durch die Erfindungskraft von Schriftstellern und Künstlern die Realität erweitert, und dadurch wird den Entwürfen von Diktatoren und Tyrannen etwas entgegengesetzt. Ich glaube, Erinnerung und Imagination müssen zusammenkommen, um das auszudrücken, was ich beim Schreiben heutzutage für wesentlich halte. Es ist eine schwierige Aufgabe, aber ich versuche das in meiner eigenen Arbeit zu realisieren.
In Ihrem umfangreichen Roman „Das Sonnentor“, der im nächsten Jahr auch auf Deutsch erscheinen wird, erzählen Sie die Geschichten von Palästinensern, die in den Flüchtlingslagern im Libanon leben. Wie haben Sie für diesen Roman recherchiert?
Ich wollte die Geschichte der Tragödie von 1948, des Exodus der Palästinenser nach der Gründung Israels, schreiben, die in der palästinensischen Literatur leider nie geschrieben wurde. Und da ich selbst kein Palästinenser bin, habe ich in den Lagern gelebt und gearbeitet, um die Gefühle der Menschen und die Atmosphäre in den Lagern zu verstehen. Da es nicht um meine persönlichen Erfahrungen ging, musste ich die Stimmen von anderen sammeln. Ich habe sehr viele Menschen interviewt, ich wollte wissen, wie sie sprechen und wie sie ihre Erinnerungen formulieren. Ich wollte etwas über den Zusammenhang zwischen Realität und Erinnerung und zwischen Erinnerung und Imagination erfahren. Im Prinzip ist ja Erinnerung zum Teil immer auch Imagination, es gibt keine reine Erinnerung, außer vielleicht in psychoanalytischen Kliniken, aber in unserem realen Leben erfinden wir, wenn wir uns erinnern. Und so ist „Das Sonnentor“ das Ergebnis von Erinnerung und Imagination.
„Das Sonnentor“ wurde ins Hebräische übersetzt und in Tel Aviv veröffentlicht. Wie war die Reaktion in Israel auf dieses Buch?
Es gab eine Reihe von Besprechungen in den Zeitungen, die alle sehr gut waren, nur ein Kritiker schrieb – und das war kein Literaturkritiker, sondern ein Historiker –, der Leser dürfe dem Roman nicht glauben. Als ich das las, musste ich lachen, denn natürlich ist ein Roman ein Roman, man kann ihn nicht beurteilen wie ein Geschichtsbuch. Dennoch stimmen die historischen Fakten in dem Roman, das Verschwinden von einzelnen Dörfern, die historischen Daten, sogar die Namen derjenigen, die gestorben sind, aber es ist nicht mein Aufgabe, das zu beweisen. Ich bin kein Historiker. Meine Aufgabe als Schriftsteller ist es, Geschichten so zu schreiben, dass sie glaubhaft erscheinen, egal, ob sie wirklich passiert oder erfunden sind. Das macht gute Literatur aus. Insgesamt wurde der Roman in Israel wirklich sehr, sehr gut aufgenommen. Allerdings gab es zu meinem Erstaunen keine Debatte über das Buch.