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ein arabisches tv-tagebuchDer Schriftsteller Sélim Nassib über den Irakkrieg aus der Perspektive von al-Dschasira

Fußtritte ins Gesicht von Saddam Hussein

Aufrecht stehend, am Rande eines Boulevards in Bagdad, tritt ein Mann in einem grauen Gewand (einer Djellabah) mit seinem Schuh gegen ein großes Porträt von Saddam Hussein, das er in seiner Hand hält. Er ruft: „Gangster“ und nach dem nächsten Tritt: „Mörder!“ Dann tritt er noch einmal zu. Ein Zivilist, der vorbeikommt, verpasst dem Porträt ebenfalls einen Tritt, ein anderer zieht seine Hose aus und verhüllt damit das Gesicht des zerrissenen Chefs. Ein Vierter, ein junger Plünderer, lässt für einen Moment seine Beute stehen, um an dieser Szene teilzuhaben.

Dieses Bild, das al-Dschasira ständig wiederholt, zeigt mehr als jedes andere, dass die Angst vor dem Regime verschwunden ist – zumindest für manche Bewohner Bagdads.

Die Szenen der Freude, mit denen die amerikanischen Soldaten begrüßt werden, sie werden auch gezeigt – aber viel seltener. Viel öfter zu sehen sind die Bilder von den Plünderungen der Behörden und offiziellen Büros, „die ohne Bewachung sind, seit die irakischen Soldaten von den Straßen der Hauptstadt verschwunden sind.“

Der Sprecher des Senders ist beunruhigt: „Mit dem Verschwinden jeglicher Autorität bedrohen Anarchie und Chaos die irakischen Städte. Wenn dem nicht schnell ein Ende gesetzt wird, droht die Situation in gefährlicher Weise außer Kontrolle zu geraten, und eine humanitäre Katastrophe könnte die Folge sein.“

Die Bilder von amerikanischen Panzern, die vor dem Hotel Palästina, in dem viele Journalisten wohnen, aufgefahren sind, machen plötzlich den Fall des Zentrums der Hauptstadt spürbar. Am Vortag hatte der irakische Informationsminister seinen letzten öffentlichen Auftritt vor genau diesem Hotel.

Trotz aller journalistischen Zurückhaltung, die sich der Sender aus Katar auferlegt, ist klar, dass nach drei Wochen intensiver Bombardierungen sich Bagdad fast kampflos ergeben hat.

Al-Dschasira hegt angesichts dieser neuen Entwicklungen gemischte Gefühle. Vor dem Hotel Palästina hat nur wenige Augenblicke vor der Ankunft der Marines die Aussegnung des Leichnams von Tarek Ajub stattgefunden, desjenigen Korrepondenten des Senders, der am Vortag durch eine amerikanische Bombe getötet worden war. Bilder von Kollegen des Journalisten, die seinen Sarg tragen, werden ausgestrahlt, wobei der Kommentar durchblicken lässt, dass das Büro des Senders wohl absichtlich ins Visier genommen wurde.

In Basra ist eine Crew des Senders indessen in eine der Folterkammern des Regimes eingedrungen. Ehemalige Opfer zeigen, was dort passierte: Sie tun so, als ketteten sie sich an die Mauern und als schlügen sie sich mit Knüppeln auf den Kopf und ins Gesicht, dabei die Hände auf dem Rücken gefesselt. So werden die Gräuel des Regimes vorgeführt – aber auch das tiefe Misstrauen, das der Sender gegenüber den siegreichen amerikanischen und britischen Truppen hat.

Die Leitung von al-Dschsira hat bereits wissen lassen, dass er „aus Gründen einer Verschlechterung der Sicherheitslage“ dabei ist, alle seine Korrespondenten aus dem Irak zurückzuziehen. SÉLIM NASSIB

Der libanesische Schriftsteller und Journalist Sélim Nassib lebt und arbeitet seit 1969 in Paris. In einer Kolumne für die Libération, El País und die taz begleitet er die Kriegsberichterstattung des arabischen Nachrichtensenders al-Dschasira

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