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Archiv-Artikel

Wenn Selbstkritik offene Türen einrennt

Der Kampf der Kulturen fällt aus: Die Deutschen sind seit dem 11. September 2001 islamfreundlicher und aufgeklärter als ihre europäischen Nachbarn. Der Dialog der Kulturen hat dennoch ein Problem: Wir machen immer nur den Westen für den desolaten Zustand der arabischen Welt verantwortlich

Wie fruchtbar kann ein Dialog sein, der mit Kritik an Despoten spart?

von EBERHARD SEIDEL

Die Deutschen haben sich verändert. Sie sind reifer und ruhiger geworden. Vor dem 11. September galten sie als Hysteriker und Alarmisten. Zu Recht. Über Jahrzehnte hinweg gehörte die lustvolle Beschwörung von Untergangsszenarien zur deutschen Gefühlskonstante: Waldsterben, atomarer Holocaust, Klimakatastrophe, Asylantenschwemme et cetera.

Inzwischen, so scheint es, bringt die Deutschen nichts mehr aus der Ruhe, nicht einmal der Brandanschlag von Djerba, der vor allem deutsche Touristen traf. Im Gegensatz zu Großbritannien, Italien und den Niederlanden fehlt in Deutschland jeder Ansatz von antiarabischer und antiislamistischer Kampfbereitschaft. Daran können auch die beinharten Transatlantiker der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und der Zeit wenig ändern. Ihre Appelle, die Deutschen mögen doch ein wenig aggressiver gegen den Terror aus einer reformunfähigen arabischen Welt auftreten, verhallen ungehört.

Die neudeutsche Gelassenheit lässt sich messen. In keinem anderen westeuropäischen Land wurden nach dem 11. September so wenig antiislamische Übergriffe registriert wie in Deutschland. Und der Duisburger Diskursanalytiker Siegfried Jäger, dessen wachem Auge kein rassistischer Beitrag in den Medien entgeht, widerspricht der „Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC), die in ihrem jüngsten Bericht behauptet: Die Fremdenfeindlichkeit habe nach dem 11. September wegen der verstärkten Angst vor dem Islam zugenommen. Journalisten seien oft dazu übergegangen, „Spannungen zwischen inländischen und ausländischen Schichten zu schüren“. Im Gegensatz zur EUMC meint nun Siegfried Jäger: Seit dem 11. September 2001 ist die Berichterstattung über Einwanderer und den Islam in Deutschland weniger dramatisierend als in der Zeit davor, es wird seltener ein Feindbild Islam konstruiert. Diese Einschätzung basiert auf der Auswertung von mehr als 1.000 Artikeln aus Bild, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frankfurter Rundschau und Focus.

Die Deutschen sind weniger fremdenfeindlich als der Rest Europas?! Es fühlt sich noch ein wenig merkwürdig an, einen solchen Satz niederzuschreiben. Schließlich können sie bekanntlich auch ganz anders. In den frühen Neunzigerjahren reagierte Deutschland – mit Ausnahme des ehemaligen Jugoslawien – von allen europäischen Ländern am gewalttätigsten auf die Folgen der geopolitischen Umbruchsituation von 1989. Gemeinsam konstruierten organisierte Rechtsextremisten, aufgescheuchte Bürger sowie Politiker der großen Volksparteien das Feindbild Asylant. Die Bilanz dieses Bündnisses des Hasses in den Neunzigern: mehr als 100 Tote rassistischer Gewalt und mehr als 1.500 Sprengstoff- und Brandanschläge.

Warum reagierten die Bürger nach dem 11. September so völlig anders als nach 1989? Was hat sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren verändert? Die Antwort ist banal. Im Gegensatz zu den frühen Neunzigerjahren war Deutschland gut auf die Herausforderung des 11. Septembers vorbereitet, da inzwischen stabile Fundamente einer Zivilgesellschaft gelegt waren. Seit Samuel P. Huntington 1996 seine Thesen vom Kampf der Kulturen veröffentlicht hatte, bildete sich in der Bundesrepublik eine große Koalition aus Wissenschaft, Politik und Kirchen, um ihm zu widersprechen. Auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog machte sich die Widerlegung der These zur Herzensangelegenheit und forderte die Deutschen 1997 in einem Interview auf: „Macht nicht den Fehler, dass ihr jeden Terroristen mit dem Islam gleichsetzt und den Islam mit dem Terrorismus. Schaut euch die Dinge genau an.“ In den folgenden Jahren widmeten sich die parteinahen Stiftungen und evangelischen wie katholischen Akademien intensiv dem Dialog der Kulturen und Religionen.

Gleichzeitig war durch den Regierungswechsel 1998 ein moderater migrationspolitischer Diskurs entstanden, und es gab im Jahr 2000 den von den Medien lebhaft unterstützten „Aufstand der Anständigen“. In der Folge entstanden eine Fülle staatlich alimentierter Initiativen und Projekte gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit.

Dies alles zusammen erzeugte ein in Deutschland bislang unbekanntes zivilgesellschaftliches Klima, das nach dem 11. September die allseits befürchtete antiislamischen Ressentiments unter Kontrolle hielt. Als segensreich hat sich vor allem die Einbindung der Boulevardpresse in den neuen zivilgesellschaftlichen Konsens erwiesen. So formulierte die Bild-Zeitung bereits am 16. September 2001, worauf sich die große Mehrheit der Bundesbürger offensichtlich bis heute einigen kann: „Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Kampf der Kulturen. […] Das Allerletzte sind Mit-Christen, die nun zum Feldzug gegen den Islam blasen und den weltweiten Schock nutzen, um auf den Flammen des Infernos ihr heuchlerisches Süppchen zu kochen.“

Inzwischen ist der Dialog der Kulturen fast schon in den Rang einer Staatsaufgabe gehoben worden. Die letzten Zweifel an der Dialogbereitschaft der Republik räumte am Wochenende der 9. Bundeskongress für politische Bildung in Braunschweig aus. Die Bundeszentrale für politische Bildung und die deutsche Vereinigung für politische Bildung hatten rund 1.000 Lehrer und Mitarbeiter der Jugend- und Erwachsenenbildung eingeladen, um mit ihnen über ihre Verantwortung beim Abbau von Feindbildern zu reden. Mehr als 100 Wissenschaftler erläuterten das Veranstaltungsmotto „Dialog der Kulturen – Politik, Gerechtigkeit, Menschenrechte“. Diese 1.000 Multiplikatoren werden es also sein, die künftig den Appell des Vorsitzenden der deutschen Vereinigung für politische Bildung, Peter Fritzsche, in die entlegensten Winkel der Republik tragen werden. Die Geltung der universellen Menschenrechte lasse sich nicht mit Krieg, sondern nur mit dem Dialog erreichen, gemahnte Fritzsche.

Es hätte dieses Appells nicht bedurft. Denn in Braunschweig demonstrierten die versammelten Pädagogen eindrucksvoll, wofür ihr Herz schlägt: für Frieden und gegen George W. Bush und Ariel Scharon. Folglich bekamen jene Redner den größten Beifall, die die Politik der USA und Israels als die eigentliche Ursache für Terrorismus brandmarkten. Für den Theologen Hans Küng zum Beispiel ist die Besetzung Palästinas der Nährboden für alle Formen arabischen Terrorismus, auch für den eines Bin Laden.

Nun gehört nicht sehr viel dazu, um Bushs Arroganz der Macht und sein imperiales Gehabe zu kritisieren. Ebenso wenig, um gegen den drohenden Irakkrieg zu sein. Allerdings irritiert es schon, wenn eintausend gebildete Menschen begeistert applaudieren, wenn Küng behauptet: „Der Dialog der Kulturen ist durch die USA gefährdet.“ Ist die Welt wirklich so einfach, wie sie Udo Steinbach vom Orient-Institut in Hamburg sieht? Mit geballter Faust und stechendem Blick donnert er in den Saal: „Die Anschläge von Djerba, Bali und Moskau sind Ausdruck des Zorns. Vor dem 11. September bewegte sich die islamische Welt auf den Westen zu, haben Islamisten ihre Strategie überdacht. Jetzt sieht es so aus, als bewegten wir uns aufgrund der politischen Fehlleistungen des Westens auf einen Clash zu.“ Und warum erhält Küng Beifall auf offener Szene, wenn er mit hohem moralischem Tremolo die palästinensischen Opfer des Nahostkonflikts beklagt, aber kein Wort des Mitgefühls für die israelischen übrig hat?

Mit etwas bösem Willen kann man in all diese Reaktionen einen geschickt verkleideten Antisemitismus hineininterpretieren. Aber wahrscheinlich verhält es sich viel einfacher. Seit der Imperialismuskritik der Sechzigerjahre glauben vor allem Pädagogen jenseits der 55, und dies war in etwa das Durchschnittsalter der Braunschweiger Runde, dass alles Böse aus dem Westen kommt und dass die Länder des Trikont bar jeder Verantwortung für ihr Handeln oder gar ihre gesellschaftlichen Verhältnisse sind. Es ist dies nichts anderes als eine Variante paternalistischen Verhaltens.

Offensichtlich ist es einfacher, den Westen für den desolaten Zustand der arabischen Welt verantwortlich zu machen, als zu sagen: Die Menschen in den arabischen Ländern werden von einem verkommenen Haufen von Despoten regiert und drangsaliert. Aber wie fruchtbar kann ein Dialog sein, der mit Kritik spart und mit masochistischer Selbstbezichtigung beginnt?

Es oblag dem Schriftsteller Rafik Schami in seiner fulminanten Abschlussrede im Braunschweiger Dom einiges zurechtzurücken. Für Schami tendiert der Beitrag der arabischen Welt zur zivilisatorischen Entwicklung derzeit gegen null. Die Region versinke zunehmend in Finsternis, weil Millionen von Menschen von korrupten Machthabern aus ihren Heimatländern vertrieben würden. Der Schriftsteller erinnerte daran, dass bis heute noch kein arabischer Herrscher gegen den Aufmarsch der US-Armee in der Region protestiert habe. Für Schami ist der drohende Krieg auch eine Strafe für Europa, das fünfzig Jahre lang nichts unternommen habe, die Mittelmeerregion in eine friedliche zu verwandeln.