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: Die Buddenbrooks und die aktuellen Erzählungen vom deutschen Niedergang

Wir sind die Hagenströms

In den vergangenen Tagen zitierten Zeitungsartikel gehäuft aus Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ – sogar auf den Wirtschaftsseiten! In Zeiten des finanziellen Niedergangs setzen offenbar auch Wirtschaftsredakteure auf kulturelles Kapital.

Eine Zitatenhausse vor dem Hintergrund der allgemeinen Baisse also, und das Schlüsselwort lautet dabei natürlich „Verfall“. Wenn’s in dieser Zusammenraffung nicht so blöd klänge, würde man glatt behaupten, dass das Schicksal Deutschlands mit dem Schicksal der Familie Buddenbrook gleichgesetzt wurde; aber viel differenzierter ist es wirklich nicht gewesen. Statt des „Verfalls einer Familie“, wie der Roman im Untertitel heißt, wurde der Verfall eines Staates diagnostiziert; die Finanzkrise wurde auf der Folie des Untergangs des ehemals stolzen Lübecker Kaufmannshauses gelesen. Besonders hübsch ist dabei die Identifikation mit Hanno Buddenbrook, dem – so schildert es Thomas Mann – lebensunfähigen Spätsprössling. Irgendwann zieht er im Familienbuch einen dicken Strich, weil er denkt, nach ihm komme nichts mehr. Genau so ein Schlussstrich sei, so stand es in der FAZ, im Grunde die Sozialpolitik der Regierungsparteien. Auch sie handeln, so lässt sich diese feine Anspielung entschlüsseln, als ob nach ihnen keine Generation mehr komme. Wir Untergeher.

Distinktion muss sein, gerade auch in der Krise. Aber stimmen eigentlich die Bezüge? Wenn man genau hinsieht, wird man feststellen, dass eine interessante Verschiebung vorliegt – und zwar nicht nur eine von einer kulturellen Erzählung hin zu einer Diagnose zu realen Geschehens; das sei geschenkt. Viel interessanter ist die Verschiebung innerhalb der möglichen Identifikationsfiguren. Wenn man sich auf dies Spiel schon einlässt, kann man nämlich sagen, dass nicht die Familie der Buddenbrooks zur Beschreibung der aktuellen Lage taugt, sondern die der Hagenströms.

Glaubt man jedenfalls den Erzählungen der Soziologie, so besteht unsere Gesellschaft nicht aus Familien mit altem Geld, die sich im allmählichen Prozess der Verarmung befinden. Wir sind eine Gesellschaft von Sozialaufsteigern. Auch dafür gäbe es mögliche Anknüpfungspunkte im Roman. Dass Thomas Mann parallel zum Abstieg der Buddenbrooks eben den Aufstieg der Hagenströms schildert, erscheint derzeit aber nicht recht anschlussfähig. Sozialaufsteiger wollen als Erstes den Geruch des Sozialaufsteigers loswerden. Das ist keine originelle Erkenntnis – Thomas Mann verarbeitet sie, indem er die Hagenströms das altehrwürdige Buddenbrooks-Haus kaufen lässt. Wenn man aber wahrnimmt, wie das wirtschaftliche Schicksal Deutschlands derzeit beschrieben wird, muss man an sie denken. Wir verarmen, weil die meisten anderen europäischen Gesellschaften schneller wachsen, stand neulich mal zu lesen. Die Hagenströms sind immer die anderen!

Die Sache ist nur die: Mit dem Hagenström-Modell im Hinterkopf ließe sich eine ganz andere Geschichte von der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation erzählen. Es ginge dann nicht um Verfall und Niedergang, sondern darum, dass wir in einer Situation sind, in der wir vieles von dem, was wir erreichen wollten, erreicht haben und uns nun an die günstigste Verteilung des erwirtschafteten Reichtums machen müssen. Bei Licht besehen, wäre diese Geschichte wohl ein bisschen realitätsnäher. Aber, stimmt schon, sie hätte nicht so einen depressiven Schick und die Gegenwart ließe sich mit ihr nicht als Dekadenzphänomen deuten. Dafür hätte sie wiederum den Vorteil, nicht in allgemeinen Klagen über den Weltlauf zu enden.

Sei es drum, in der Realität ist es mit den Buddenbrooks sowieso ganz anders gelaufen. Da hat Hanno in Gestalt seines Schöpfers Thomas Mann den Literaturnobelpreis bekommen und wurde zum Weltstar. Und wie es mit seiner Familie weiterging, konnte man vor Jahresfrist in Heinrich Breloers Film „Die Manns“ verfolgen. Viel war darin von alltäglichem Unglück, Eifersüchteleien und Generationenkonflikten zu sehen, aber von tatsächlichem Verfall eher wenig. Die Erzählung vom Niedergang wurde von der Realität nicht gedeckt. Es kam eben doch noch einiges. DIRK KNIPPHALS