: Der Baum als Lehrer
Unter allen Wipfeln ist Ruh: Seitdem Ende vorigen Jahres der erste „Friedwald“ Deutschlands genehmigt wurde, sind auch im Land der strengsten Friedhofsgesetze alternative Bestattungen möglich
von SANDRA SACHS
Mutter und Tochter sind auf der Suche, mustern Baum für Baum. Dann bleibt die Ältere stehen, zeigt auf eine Kastanie, gut zehn Meter hoch mit ausladender, jetzt unbelaubter Krone. Langsam schreitet sie auf den Baum zu, fährt mit dem Finger eine Furche in der Rinde nach, malt dann ein Kreidekreuz auf das Holz. Die Entscheidung ist gefallen, die Kastanie soll ihr Grabwächter sein.
Für Mutter und Tochter war der Tod nie ein Tabuthema, im Gegenteil. Jahrelang haben sie den schwer kranken Vater bis zu seinem Tod zu Hause gepflegt. Noch jetzt haben sie die kitschigen Blumengebinde, die schwülstigen Abschiedsreden und die weinende schwarze Trauerschar in grauenvoller Erinnerung.
Nie wieder!, haben sie sich insgeheim geschworen. Keine will der anderen eine typische Beerdigungszeremonie zumuten, und sie wollen sich auch die Friedhofspflichtbesuche, überwacht von den Argusaugen der Verwandten und Nachbarn, ersparen.
Die Erfüllung ihres Wunsches nach einem – im doppelten Sinne – stillen Begräbnis, irgendwo in der Natur, verhinderte bis vor kurzem das deutsche Friedhofsgesetz. Es verbietet den Angehörigen, frei über die Asche des Verstorbenen zu verfügen. Die Asche muss, so ist die Vorschrift, auf einem kirchlichen oder städtischen Friedhof beigesetzt werden. Letzter Wille? Ein leeres Wort.
Ende vorigen Jahres stieß die Tochter auf einen Zeitungsartikel über die Gründung des ersten deutschen Friedwaldes im November 2001. Alternative Baumbestattung, Begräbnis in freier Natur, keine Grabsteine, kein Blumenschmuck – schlicht und anonym, so wie es sich die Mutter vorstellte. Im Internet fand sie weitere Informationen über den 116 Hektar großen Reinhardswald bei Kassel, auch eine Telefonnummer des Friedwaldgründers Axel Baudach, und vereinbarte sofort einen Besuchstermin.
„Die Baumbestattung ist kein neumodischer Esoterikkram“, sagt Axel Baudach beim Friedwaldspaziergang. Der Sinn der alternativen Baumbestattung liege tiefer. „Schon in den vorchristlichen Religionen sind Pflanzen, vor allem aber der Baum, als Lehrer des Menschen angesehen worden“, zitiert er den Wiener Religionsphilosophen Arnold Keyserling. Die Baumbestattung, erklärt Baudach, sei eine Einordnung des Menschen in die Natur, weil die Asche des Toten den Baum nährt, wie der Baum den Menschen mit Sauerstoff am Leben hält. Diese Sichtweise spricht Mutter und Tochter aus dem Herzen. Ein einfaches Holzschildchen mit dem Familiennamen wird später das Kreidekreuz ersetzen.
Nach dem Eintrag ins Baumregister und ins örtliche Grundbuch ist es offiziell: Für 99 Jahre und 3.350 Euro haben Mutter und Tochter die Friedwaldkastanie als Familiengrabbaum gepachtet. „Falls der Baum Opfer von Sturm, Blitzschlag oder Waldbrand wird, bekommen Sie ihn ersetzt“, verspricht Baudach.
Deshalb wird der Baum auch vermessen und sein genauer Standort in eine Karte eingetragen, so dass die Grabstätte später in jedem Fall wiedergefunden werden kann. Die Ersatzgarantie gilt allerdings nicht, wenn die Kastanie eines natürlichen Todes stirbt.
Daran wollen Mutter und Tochter gar nicht denken. Viel wichtiger ist ihnen, mehr über die Beisetzung an sich zu erfahren. „Die Asche wird uns gut eine Woche nach der Verbrennung mit der Post zugeschickt. Dann vereinbaren wir einen Beerdigungstermin. Der Förster gräbt kurz vorher neben dem Stamm ein zirka fünfzig Zentimeter tiefes Loch in den Boden“, erklärt Baudach. Große Vorsicht sei dabei geboten, damit das Wurzelwerk des Baums nicht beschädigt wird. Einzige Bedingung: Die Urne muss biologisch abbaubar sein. Wie die Beisetzung ablaufen soll, ob mit oder ohne Pfarrer beispielsweise, dürfen Mutter und Tochter selbst bestimmen. Beide wissen schon jetzt, dass sie die Trauer nur mit ihrer Kastanie teilen wollen.
Später gesteht ihnen Baudach, dass er die Friedwaldidee von einem Schweizer geklaut hat. Ueli Sauter stand 1993 vor einem Problem. Sein verstorbener Freund hatte sich gewünscht, würdig in der Natur beerdigt zu werden. Sauter verbuddelte die Asche kurzerhand unter einem Baum. Dabei kam ihm die Idee, einen Wald des Friedens, mit Bäumen als Grabsteinalternative, zu gründen – einen so genannten Friedwald.
Dass die Beisetzung seines Freundes unter freiem Himmel eigenmächtig und illegal war, erfuhr er nun von den Schweizer Behörden, denen er sein Projekt vorstellte. Schließlich überzeugte er den Beamtenapparat und gründete den ersten Schweizer Friedwald. Mittlerweile brummt das Geschäft. Rund dreißig Friedwälder im kleinen Alpenstaat sprechen für den Trend zur alternativen Bestattung.
Axel Baudach hatte zufällig von Sauters Friedwäldern gehört, war von der Idee begeistert und setzte sich mit dem Schweizer in Verbindung, der ihn darin bestärkte, seine Friedwaldidee auch in Deutschland zu verwirklichen. Seinen Enthusiasmus dämpfte zuerst das deutsche Friedhofsgesetz. Doch seine Hartnäckigkeit hatte Erfolg.
Das Rennen um den ersten deutschen Friedwald gewann der Reinhardswald bei Kassel, wegen seines besonders schönen Baumbestandes und seiner Mittellage innerhalb Deutschlands. Zudem unterstützte der Forstamtsleiter die Idee mit Begeisterung. Gemeinsam überzeugten sie das zuständige Landratsamt, das den Reinhardswald offiziell als Friedhof genehmigte. Damit war das Problem mit der Asche und dem Friedhofszwang gestorben.
Baudach und seine Geschäftspartnerin zahlten die Pacht für den Wald anfangs aus eigener Tasche, jetzt fließen die ersten Einnahmen durch die Nutzungsverträge mit den Kunden. Offenbar hat er eine Marktlücke entdeckt: 3.500 Anfragen liegen derzeit vor. Die meisten Kunden sind zwischen 50 und 65 Jahre alt. „Das große Interesse zeigt deutlich, dass der Tod kein Tabuthema mehr ist. Dass viele sich zu Lebzeiten über das Wo und Wie ihrer Beerdigung Gedanken machen, am liebsten auf den Beerdigungspomp mit Trauerschar, Blumenkränzen und Leichenschmaus verzichten wollen und anderweitig vorsorgen“, sagt Baudach.
Zurück zur Natur gehe der Trend, zur Anonymität, weg von einheitlichen, symmetrisch angelegten und soldatisch aufgereihten Grabsteinen. Als sich Mutter und Tochter verabschieden wollen, treffen sie auf eine ältere Dame in dicker Daunenjacke und Wanderschuhen. Baudach stellt sie als eine seiner ersten Kundinnen vor.
„Mein verstorbener Mann und ich hörten schon vor Jahren auf einer Schweizreise von Sauters Friedwäldern und haben aus reiner Neugierde einen besichtigt, besser gesagt, wir sind einfach nur spazieren gegangen“, erzählt sie. „Diese Ruhe – nichts hat an Trauer und Tod erinnert. Zurück in Deutschland, mussten wir dann leider erfahren, dass das Friedhofsgesetz hier diese Bestattungsart verbietet.“ Zwar hätten ihr Mann und sie beantragen können, die Asche per Post an einen Schweizer Friedwald zu schicken und dort vergraben zu lassen, aber das sei ihnen dann doch zu umständlich und zu teuer erschienen.
Von der Gründung des ersten deutschen Friedwaldes erfuhren sie aus der Kasseler Tageszeitung. „Wir riefen Axel Baudach sofort an und verabredeten uns zu einem unverbindlichen Gespräch.“ Dabei hörten sie von der zweiten Möglichkeit der alternativen Baumbestattung: „Wir entschlossen uns, im Frühjahr selbst einen jungen Baum, eine Birke, zu kaufen, und im Reinhardswald vom Förster pflanzen zu lassen“, erzählt sie. Das sei für den Baum ungefährlicher, weil hier der Förster neben dem frisch gepflanzten Baum ein Loch gräbt, in das ein Rohr, später die Urne, eingesetzt wird. So können die Wurzeln um das Rohr herumwachsen und werden nicht im Nachhinein beschädigt.
Mittlerweile hat sich ein Verein gegründet, der helfen will, weitere Friedwälder in ganz Deutschland einzurichten. Immerhin sechshundert Mitglieder hat der Verein bereits. „Wir wollen den Behörden zeigen, dass der Bedarf da ist“, sagt die ältere Dame. Zurzeit laufen in allen westlichen Bundesländern Antragsverfahren. In Baden-Würtemberg, Niedersachsen und Saarland sollen bis zum Sommer die nächsten Friedwälder entstehen. „Außerdem zahlen Vereinsmitglieder eine geringere Pachtgebühr, eine Grabstätte unter einem Gemeinschaftsbaum ist sogar umsonst“, fügt Baudach hinzu. Eine Mitgliedschaft kostet vierzig Euro im Jahr. Davon werden unter anderem Seminare zur Bestattungsvorsorge finanziert.
Mutter und Tochter verzichten momentan auf eine Mitgliedschaft in dem Verein. So intensiv wollen sie sich dann doch nicht mit dem Tod auseinander setzen. Die ältere Dame verabschiedet sich und verschwindet zwischen den Bäumen.
Ein Spaziergang an einem Winternachmittag, in einem fast normalen Wald.
SANDRA SACHS, 24, Journalistikstudentin in Bamberg, hospitiert momentan im taz.mag
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