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Globalisierung und Demokratie: ein Widerspruch?

Die umfassende Liberalisierung der Wirtschaft sei Garant für allgemeinen Wohlstand, Freiheit und Demokratie weltweit. Heißt es. Doch die Realität zeigt, dass immer mehr Entscheidungsgewalt von den politischen Institutionen auf transnationale Unternehmen verlagert wird. Ein mono.mag

von HERMANN SCHEER

Die schrankenlose weltweite Liberalisierung der wirtschaftlichen Beziehungen orientiert an den Entfaltungsbedürfnissen transnationaler Unternehmen: Das wird heute unter Globalisierung verstanden. Noch Anfang der Neunzigerjahre – als die Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro stattfand – stand der Begriff für die allseitige Mitverantwortung insbesondere für die globale Umwelterhaltung. Erst seit der WTO-Vertragskonferenz in Marrakesch im April 1994[1]setzte sich die Okkupation dieses Begriffs für die transnationale Wirtschaftsliberalisierung durch.

Der Harvardökonom Paul Krugman meint, dass diese Globalisierung eigentlich kein neuartiger Vorgang sei – schließlich habe der freie Welthandel prozentual []nicht einmal das Niveau erreicht, das vor dem Ersten Weltkrieg schon erzielt worden war.[2]Doch Krugman und andere übersehen den eigentlichen Quantensprung zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung: den absoluten Vorrang der Wettbewerbsgleichheit – trotz zunehmender struktureller Ungleichheit – nicht nur gegenüber klassischen protektionistischen nationalökonomischen Ansätzen, sondern auch gegenüber sämtlichen mit diesem Prinzip kollidierenden autonomen Entscheidungskompetenzen demokratischer Verfassungsstaaten und existenziellen Erfordernissen des Umweltschutzes. Der WTO-Vertrag wird als globaler Obervertrag angesehen, obwohl das Völkerrecht keine Hierarchien zwischen seinen Verträgen kennt.[3]WTO-Regeln beanspruchen, den Spielraum nationaler Verfassungen vielfach einschränken zu dürfen.[4]Der gleichen Ideologie folgend, beansprucht die Generaldirektion Wettbewerb der EU, die wirtschaftliche Strukturpolitik der EU-Länder ihrem Genehmigungsvorbehalt zu unterstellen.[5]Immer mehr Spielraum für transnationale Unternehmen, immer weniger für innerstaatliche Institutionen – dieser Primat der Wirtschaft ist nicht mehr nur de facto, sondern zunehmend auch de jure international verankert worden.[6]

Diese Entwicklung erscheint weiterhin als unaufhaltsam, als säkularer Prozess – obwohl sie keineswegs eigendynamisch entstanden, sondern Resultat politischer Entscheidungen ist. Deren Urheber sägen sich damit den Ast ab, auf dem sie sitzen. Doch jede historische, soziologische und politische Erfahrung lehrt: Es gibt keine bruchlosen, linearen Entwicklungen – besonders dann nicht, wenn sie so sehr im Widerspruch zu ihren eigenen Verheißungen stehen wie der Globalisierungsprozess. Die Frage ist, wann und wie die fälligen Brüche eintreten; ob sie einem Konzept entsprechen, hinter dem eine tragfähigere Weltwirtschaftsordnung steht, oder ob sie das sich abzeichnende Chaos in der Weltgesellschaft heillos zuspitzen.

Die globale Wirtschaftsliberalisierung ist keine „Dea ex Machina“, keine unfehlbare Heilsbringerin

Dass die Verheißungen der globalen Wirtschaftsliberalisierung als Schlüssel zu allgemeinem Wohlstand, Freiheit und Demokratie und als unaufhörlich brummender Motor der Marktwirtschaft nicht aufgehen können, wird immer deutlicher. Die Globalisierung werde früher oder später alle Barrieren beiseite räumen: So tönt es zwar immer noch auf allen Rängen, bei treibenden wie bremsenden Kräften, enthusiastisch oder resignierend.[7]Jeder Protest sei letztlich aussichtslos. Wer sich dem Prozess der Globalisierung entgegenstelle, kämpfe allenfalls noch ein Rückzugsgefecht zur Milderung des Tempos. Das weltweit vagabundierende Kapital und die transnationalen Unternehmen seien ohnehin von keiner Regierung mehr wirklich zu kontrollieren, es sei denn zu deren eigenem empfindlichem Schaden. Spätestens die neuen Informationstechnologien machten aus der Liberalisierung einen gebieterischen Sachzwang. Es gebe keine Alternative mehr. Ein Totschlagargument.

Ein Apodiktum der globalen Wirtschaftsliberalisierung, das zwei Refrains hat: Es liege im Interesse aller, so schnell wie möglich die Flucht nach vorn zu ergreifen und alles – Unternehmen, Märkte, Ausbildung, Wissenschaft – global auszurichten, um im internationalen Wettbewerb nicht hoffnungslos abgehängt zu werden.

Politik könne deshalb höchstens noch international gestaltungsfähig sein: einerseits durch Ausweitung und Vertiefung der europäischen Integration und kontinentale Freihandelszonen, andererseits durch zunehmend mehr Elemente einer „Global Governance“[8], etwa durch Umwelt- und Sozialklauseln im Welthandelsvertrag und weitere völkerrechtliche Konventionen, die Stärkung der UN, ein Weltparlament und den Ausbau internationaler Gerichtsbarkeit. Der Nationalstaat verliere Zug um Zug seine Funktion. Die Eigenschaften demokratischer Verfassungsstaaten müssten auf die internationale Ebene übertragen, also parallel zur transnationalen Unternehmensformierung ebenfalls transnational zentralisiert werden, um seine Errungenschaften halbwegs zu retten.

Globalisierung national forcieren, ihre Auswüchse global einfangen – das ist das Leitmotiv der vermeintlich einzig realistischen, problem- und weltoffenen Politik. Doch das alles sind modische Behauptungen – zumindest aber ahistorische und unsoziologische Wunschvorstellungen, die die Rechnungen ohne die vielen Wirte in der Weltgesellschaft machen. Die globale Wirtschaftsliberalisierung wird zur Dea ex Machina, zur Heilsbringerin, die gegen alle gegenteiligen empirischen Fakten immun scheint. Ihre Apologeten sind nicht leicht zur Rede zu stellen, weil sie ihre Rechtfertigungen je nach aktueller Problemlage wechseln wie ihr Hemd.

Unlängst erst wurde die Informationstechnologie als einzigartige Chance gepriesen, dass sich die wirtschaftlichen Aktivitäten umfassend dezentralisieren und die Kostendegressionsvorteile der Massenindustrieproduktion auch kleinen Produzenten eröffnen[9]– tatsächlich aber findet zurzeit der größte und rapideste Konzentrationsprozess der Wirtschaftsgeschichte statt. Vielfalt verspricht die neoliberalistische Globalisierung – ihre Praxis jedoch läuft ganz im Gegenteil auf eine globale Gleichschaltung hinaus.

Die Globalisierung der Agrarmärkte durch den WTO-Vertrag als Vorteil der Dritten Welt? Für die in ihm enthaltene Forderung nach einer Streichung der Subventionen der Industrieländer für deren Agrarexporte gilt das[10]– aber ganz sicher nicht für die drei Milliarden Menschen, die ihren Lebensunterhalt aus kleinbäuerlichen Existenzen beziehen und durch die Globalisierung des Agrarhandels dem Preisdumping und der Existenzvernichtung durch die Agrarindustrialisierung der Saatgut- und Chemiekonzerne ausgeliefert sind.

Der frühere stellvertretende UN-Generalsekretär Nay Htun, in seiner Amtszeit zuständig für die Riokonferenz, warnte kürzlich auf dem „Environment Protection Forum“[11]der chinesischen Regierung eindringlich vor den gravierenden Folgen weltweiter Futter- und Nahrungsmitteltransporte und dem damit einhergehenden interkontinentalen Transport von fremden Mikroben, gegen die die geografischen Räume in keiner Weise gewappnet sind – mit der Folge, dass weltweit gewachsene Immunsysteme gefährdet sind. Als Rezeptur forderte er dennoch „freieren Handel“.

Der global gesicherte Schutz geistigen Eigentums werde, so heißt es, Wohlstand weltweit fördern.[12]Aber durch die mit Hilfe der WTO durchgesetzten Rollgriffe einiger Weltkonzerne auf das freie natürliche Erbgut der Flora, das durch Patentierung zu deren „geistigem Eigentum“ wird, findet die größte Enteignung der Geschichte statt. Nicht mehr durch Regierungen, sondern durch transnationale Unternehmen, die von den ohnehin verarmten Kleinbauern nun auch noch Lizenzgebühren für deren angestammtes Saatgut kassieren wollen.[13]

Gigantische Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse werden neuerdings damit gerechtfertigt, dass globale Marktwirtschaft nur mit großen Unternehmen funktionieren könne. Doch kaum jemand benennt die akute Gefahr, dass darin der Trend zu einer globalen Planwirtschaft durch transnationale Privatkonzerne steckt. Besessen von dem sich globalisierenden Aktionsradius, berauscht von Weltproduktionskreisläufen ist die Weltpolitikermehrheit derzeit blind dafür, dass nachhaltiges Wirtschaften nur auf der Basis regionaler Produktkreisläufe möglich ist.

Selbst gegen die Tatsache, dass in den letzten vier Jahrzehnten – also in der Phase der Neoliberalisierung der Weltwirtschaft – der Einkommensunterschied zwischen den zwanzig Prozent Reichsten und den zwanzig Prozent Ärmsten der Weltgesellschaft fast verdreifacht wurde, wird als Rezept eine noch schnellere Globalisierung empfohlen.

Da wahrscheinlich nie alles privatisiert und globalisiert sein wird und immer die Steuern als zu hoch und deshalb als wettbewerbsfeindlich gebrandmarkt werden dürften, beanspruchen die Verfechter dieses Allheilmittels, immer Recht zu behalten. Wer ihren Ratschlägen nicht folgt, den ereilt der Bannfluch des „Protektionismus“, als gebe es nichts Schutzwürdiges und Schutzbedürftiges mehr, weder sozial noch ökologisch oder kulturell – es sei denn als Weltregel durch „Global Governance“.

„Global Governance“, die in Wirtschaftsordnungen eingreift, ist eine demokratische Fata Morgana

Die Widersprüche der heute praktizierten wirtschaftlichen Globalisierung sind zu explosiv, als dass sie ihre Sprengung vermeiden könnte. „Continental Governance“ in Europa und „Global Governance“ werden diese nicht verhindern können, weil die uferlose internationale Zentralisierung politischer Institutionen genauso viele nicht einlösbare Schecks produziert wie jene der globalen Macht- und Unternehmensstrukturen. Längst ist – sogar auf der nur kontinentalen Ebene Europas – augenfällig, dass parallel zur Vertiefung der EU-Integration durch den Maastricht- und Amsterdam-Vertrag[14]in den Mitgliedsstaaten die Europaaversion und die Desintegration in der europäischen Bevölkerung wächst.

Mehr parlamentarisch-demokratische Rechte für das Europaparlament: So richtig und wichtig diese Forderung ist, ihre Verwirklichung allein wird die sich aufladende Spannung kaum abbauen können. Denn deren Ursache ist die Zentralisierung der Kompetenzen, die „nahezu tägliche Verletzung des Subsidiaritätsprinzips[15]durch alle Organe der EU“ (Helmut Schmidt) – die nicht dadurch akzeptierbar wird, dass das Europaparlament mehr Einfluss gegenüber der EU-Kommission und dem EU-Ministerrat erhält. Der Prozess der Entmündigung kommunaler, regionaler und nationaler Verfassungsorgane in immer mehr Gestaltungsaufgaben ist es, der es immer mehr Menschen überflüssig erscheinen lässt, überhaupt noch zur Wahl zu gehen.

Nicht nur wegen des sich ständig erweiternden wirtschaftlichen Erpressungspotenzials transnationaler Konzerne gegenüber Ländern und Regionen, sondern wegen der zunehmenden Entfernung und damit Nichtgreifbarkeit der politischen Entscheider und der Anonymisierung der Entscheidungsprozesse wächst die Politik- und Demokratieverdrossenheit – und treten Menschen statt der Flucht ins Globale andere Fluchtbewegungen an: politische Abstinenz, Lokalismus, Neonationalismus, Xenophobismus, Neofaschismus, Demokratieverachtung.

Wie soll da „Global Governance“ abhelfen, mit der der Abstand zwischen Repräsentanten und Repräsentierten nochmals größer ist und die Entscheidungsprozesse noch weniger transparent sind? Wenn schon kaum einer weiß, wer sein Europaabgeordneter ist und was der tut (in Deutschland kommt auf achthunderttausend Wähler ein Europaparlamentarier, auf 125.000 Wähler ein Bundestagsabgeordneter), wie wäre das erst bei einem Weltparlament von tausend Abgeordneten (bereits viel zu groß für ein arbeitsfähiges Parlament), in dem ein Volksvertreter auf sechs Millionen Menschen käme?

Der Einfluss mächtiger Interessengruppen auf politische Institutionen wächst mit deren Undurchsichtigkeit – und mit dieser schwindet die demokratische Legitimation der Institutionen wie die Akzeptanz des politischen Personals. Dies ist ein soziologisches Gesetz der Demokratie. Schon die Anzahl der US-amerikanischen Kongressmitglieder im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung von etwa dreihundert Millionen wäre entschieden zu niedrig und die Entfernung der Wähler wäre entschieden zu groß – gäbe es nicht die Bundesstaaten mit erheblichen Eigenkompetenzen, die jedenfalls größer sind als die Kompetenzen, die ein EU-Mitgliedsland noch gegenüber der (nicht demokratisch gewählten) EU-Kommission und dem Ministerrat hat.

Und wer gar denkt, die Beschlüsse von Regierungskonferenzen über internationale Verträge – ausgeweitet auf immer mehr Entscheidungsfelder hin zur völkerrechtlichen Determinierung von immer mehr nationalen Gesetzen der gesellschaftlichen Daseinsvorsorge – könnten ein Äquivalent zum klassischen Verfassungsstaat sein, der hat die Grundzüge politischer Soziologie nicht verstanden.

Die Globalisierung als ein alle Lebensbereiche dominierender Prozess liefert die Weltentwicklung zwangsläufig denjenigen wirtschaftlichen und politischen „Global Players“ aus, die die überlegenen Mittel zur globalen Organisierung haben.[16]Durch mit immer mehr Kompetenzen ausgestattete internationale Institutionen, denen die tatsächliche demokratische Erreichbarkeit und Handlungskontrolle zum Opfer fällt, ist eine Lösung gesellschaftlicher Existenzprobleme nicht zu erwarten. Und damit kann der Vielfalt menschlicher und gesellschaftlicher Existenzbedürfnisse und Sehnsüchte nicht entsprochen werden.

Deshalb wird die sich immer erweiternde Globalisierung – gewollt oder ungewollt – die Weltgesellschaft kaum in ein Zeitalter internationaler Zusammenarbeit und Stabilität führen, sondern eher in haltlose Aufsplitterung und Instabilität; nicht zum Weltfrieden, sondern eher zu mittelalterlich anmutenden Bürgerkriegen[17]; nicht zum weltweiten Wohlstand, sondern eher zu grassierendem Massenelend; nicht zum globalen Umweltschutz, sondern eher zu noch enthemmterer Naturausbeutung; nicht zu einer aufgeklärteren Welt, sondern eher in eine irrationale zivilisatorische Zerrüttung – mit Technologien, die diese forcieren helfen, weil der Weltgesellschaft die Fähigkeit zur humaneren und demokratischen Selbstkontrolle entgleitet.

„Global Governance“ ist in vielen Fragen wichtig, besonders wenn es um das Aufstellen von Barrieren geht[18]– Gewaltverzichts-, Rüstungskontroll- und Rüstungsverbotsverträge etwa bezüglich Massenvernichtungswaffen, Menschenrechts- und Umweltschutzkonventionen und ihre Einklagbarkeit vor dem Internationalen Gerichtshof, Sozialschutzabkommen, durchaus auch weltweite Handelsregeln. Aber wenn globale Institutionen über Standards internationalen Zusammenlebens hinaus in Wirtschaftsordnungen eingreifen, werden sie zur demokratischen Fata Morgana. Die Grenze zwischen globalem Miteinander und demokratischem Selbstorganisationsspielraum muss erkannt und gezogen werden.

Die harten strukturellen Bedingungen wirtschaftlicher Globalisierung

Die wirtschaftliche Globalisierung entfremdet die Menschen von der Wirtschaft und den politischen Institutionen – von den nationalen, weil deren politische Halbwertzeit zu kurz, und von den internationalen, weil sie zu lang ist. Globalisierung trennt Shareholder von Unternehmen, Unternehmen von Gesellschaften, Institutionen von Menschen.[19]Wenn dennoch Regierungen den immer weniger werdenden „Global Players“ ihre Wünsche von den Augen ablesen und diesen Wünschen all ihre eigenen „politischen“ Bedürfnisse unterordnen, dann spekulieren sie mit dieser Unterwürfigkeit darauf, dass möglichst viele Brosamen für ihre Länder übrig bleiben. Damit setzen sie auf Standortfaktoren – die jedoch gerade durch die globalwirtschaftliche Liberalisierung einer wachsenden Erosionsgefahr ausgesetzt sind.

Was ist unumkehrbar und was umkehrbar? Was an der Globalisierung ist wünschbar und was unerwünscht – gemessen an sozialen, ökonomischen, demokratischen und friedlichen Zielen? Welche Globalisierung brauchen und welche wollen wir? Wie kann die Globalisierung ausgeweitet werden, wo sie einer Gesellschaft mehr nutzt als schadet, und begrenzt werden, wo sie dieser mehr schadet als nutzt? Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns der Ursprünge und Grundbedingungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Globalisierung vergewissern, die heute als Zwilling unbegrenzter Wirtschaftsliberalität gilt.

Es gibt nämlich reversible und irreversible, „weiche“ und „harte“ Bedingungen der Globalisierung.[20]Ausgerechnet ihre härteste Bedingung – die Abhängigkeit aller Volkswirtschaften von wenigen Standorten der Ressourcenschöpfung – ist aber diejenige, die reversibel ist. Doch über den engen Zusammenhang von Ressourcen und volks- wie weltwirtschaftlicher Entwicklung wird kaum gesprochen.

Die räumliche Erschließung aller Erdteile von Europa aus – mit dem dafür wichtigsten Ereignis der Entdeckung Amerikas – ermöglichte die erste wirtschaftliche Globalisierung in Form der Kolonialisierung des Erdballs, mit militärischen Mitteln durchgesetzt und gesichert. Wirtschaftsideologischer Begründungen bedurfte es dafür nicht, denn noch gab es keine konkurrierenden ordnungspolitischen Ideen.

Dann folgten Beschleunigungen und Intensivierungen des Globalisierungsprozesses durch die von der industriellen Revolution hervorgebrachten Techniken: der Transportmöglichkeiten und der Massenproduktion. Diese machte die Industrieländer immer gefräßiger im Verbrauch von Energie und Rohstoffen als unverzichtbarer stofflicher Voraussetzung jedweder Produktion. Die regionalen Ressourcen reichten immer seltener aus, und die Ressourcenbedürfnisse wurden mit der technologischen Spezialisierung differenzierter. Fortan ging es immer weniger um Gewürze und Seide aus den Kolonien, immer mehr um deren mineralische Ressourcen. Mit deren Hilfe konnten die industrialisierten Länder ihren Startvorsprung weiter und weiter ausbauen. Energie- und Rohstoffunternehmen wurden zur strategischen Größe jedes Landes.[21]Von den Regierungen erhielten sie Unterstützung und Privilegien.

Sie wurden zu Staaten im Staat, zu undurchsichtigen Machtkomplexen. Es gibt zahlreiche Analysen über die politisch-industriellen Komplexe im Bereich der Rüstungsproduktion. Doch die grundlegendere Bedeutung kommt den politisch-industriellen Komplexen der Ressourcenwirtschaft zu, weil ohne Energie und Rohstoffe keine Wirtschaft arbeiten kann. Als die Claims der globalen Ressourcenreserven abgesteckt waren[22], sich die Ressourcenkonzerne global etabliert hatten und die Ressourcenströme von den Förderplätzen bis zu deren Konsumtion unter Kontrolle hatten, konnte auf den klassischen Kolonialismus ohne Betriebsstörung verzichtet werden.[23]Wegen ihres wachsenden Ressourcendurstes[24]wurden die Industrieländer von der Ressourcenwirtschaft ebenso abhängig wie die Rohstoffländer. Die Ressourcenwirtschaft ist das eigentliche Kontinuum der Weltwirtschaft seit der industriellen Revolution und deren bedeutendster Globalisierungsmotor. Wer Ressourcen importiert, muss exportieren, um sie auf Dauer bezahlen zu können.[25]Die Ressourcenwirtschaft führt zu einem Globalisierungszwang für immer mehr Länder, solange diese Ressourcen ein gemeinsames Merkmal haben: dass ihre Reserven an relativ wenigen Plätzen der Welt zu finden sind, es aber allerorten Bedarf dafür gibt.

Dass dieser determinierende Faktor der wirtschaftlichen Globalisierung – gleich unter welchen ordnungspolitischen Vorzeichen – allzu wenigen bewusst ist, ist vor allem mit dem unerschütterlichen Glauben an die Unersetzbarkeit dieser Ressourcen erklärbar. Die Ressourcenabhängigkeit erscheint als eine Selbstverständlichkeit, die keiner prinzipiellen Erörterung mehr bedarf.

Weil die Abhängigkeit von fossilen Energie- und Rohstoffressourcen und die für deren Bereitstellung entstandenen Strukturen heimliche Hauptmerkmale der Globalisierung sind, habe ich die Weltwirtschaft, die ich als fossile definiere, in meinem Buch mit der „solaren Weltwirtschaft“[26]kontrastiert. Darin wird aufgezeigt, dass es möglich ist, alle fossilen Energien einschließlich der Atomenergie und ebenso alle fossilen Rohstoffe durch erneuerbare Energien und erneuerbare Rohstoffe zu ersetzen, die jeweils regional gewonnen werden können. Dies würde dazu führen, dass der globale Prozess der Entkoppelung der Räume des Ressourcenverbrauchs von denen der Ressourcengewinnung umgekehrt würde – hin zu einer räumlichen Rückkoppelung. So wie der Entkoppelungsprozess, der ungebrochen anhält, die heutigen Strukturen der Weltwirtschaft geprägt hat, wird es auch der Rückkoppelungsprozess tun.

Die Fortsetzung der fossilen Struktur wäre ohnehin eine Katastrophe: wegen der Endlichkeit dieser Ressourcen und der global existenziell werdenden Umweltfolgen. Alle menschengemachten Umweltzerstörungen sind auf die Förderung, Umwandlung und Nutzung dieser Ressourcen und die daraus generierten Emissionen und Müllmengen zurückzuführen. Darüber hinaus sind die beschriebenen Abhängigkeiten in weit höherem Maße ausschlaggebend für die Verteilung von Reichtum und Armut in und zwischen den Gesellschaften, als die meisten Analytiker der Wirtschaft erkennen.

Der Kompetenzverlust der politischen Institutionen stellt diese an den Rand der Geschichte

Die „Global Players“ der Ressourcenwirtschaft, zu der nicht zufällig etwa die Hälfte der hundert weltweit größten Unternehmen zählen, haben die Ketten zwischen Förderung und Verbrauch in der Hand, die energetisch-stoffliche Infrastruktur der Weltwirtschaft.

Es wäre der einstigen Sowjetunion ohne ihren üppigen Ressourcenreichtum unmöglich gewesen, über fast siebzig Jahre hinweg eine von der kapitalistischen Weltwirtschaft weitgehend separierte und sogar unabhängige Hemisphäre zu bilden. Das Erste und fast Einzige, was die Akteure der Weltwirtschaft nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums interessierte, war und ist der Zugriff auf die Ressourcen der GUS-Staaten – sei es auf politischem Wege (Europäische Energiecharta[27], Aufnahme der kaukasischen Staaten als Nato-Kooperationsländer), durch die Expansion der Ressourcenweltkonzerne in diese Region oder durch Geschäfte mit den russischen Ressourcenhändlern, die Öl, Erze oder Wälder verkaufen, die ihnen meist gar nicht gehören; aus diesem Spektrum rekrutieren sich die Neumilliardäre der Russenmafia.

Wie schon in Afrika – besonders augenfällig zu studieren an der aktuellen Entwicklung im Kongo – mobilisieren die in der Ersten Welt als seriös gewerteten Ressourcenkonzerne auch im Osten vielfältig kriminelle Energien, bestechen hemmungslos Regierungen, finanzieren Söldnertruppen[28]und betreiben skrupellos die Destabilisierung der Gesellschaften der Dritten Welt.

Je unbegrenzter die Zugriffe auf die mineralischen Weltressourcen, desto größer die Möglichkeiten, die Ressourcenländer gegeneinander auszuspielen und ihnen immer niedrigere Rohstofferlöse zu diktieren.[29]So entstand in der nachkolonialen Epoche der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der billigste Ressourcenstrom, den es je gab: Man musste keine Verantwortung für die Ressourcenländer der Dritten Welt mehr tragen, keine Truppen mehr stationieren und Kolonialverwaltungen finanzieren, man konnte nur noch immer billiger nehmen. Die ökologische Weltkrise ist das Ergebnis dieses erleichterten Ressourcenkonsums – der in den letzten fünfzig Jahren das Doppelte dessen erreichte, was in der gesamten Zivilisationsgeschichte zuvor verbraucht wurde. Parallel dazu hat die ressourcenegoistische Rücksichtslosigkeit inzwischen so viel unberechenbare politische Brandherde in der Dritten Welt und in der ehemaligen Zweiten Welt entstehen lassen, dass nun doch wieder militärische Sicherungsmaßnahmen gefragt sind. Stetige Truppenpräsenz wird weitgehend ersetzt durch mobile „Krisenreaktionskräfte“ der Nato. Deren selbstherrliche Erweiterung ihres Aktionsradius in die Welt ist keineswegs, wie behauptet, in erster Linie dem Kampf für die Durchsetzung der Menschenrechte gedacht. Es geht vor allem darum, die „Zugangsrechte“ zu den Weltressourcen abzusichern.[30]

Es ist müßig, darüber zu reflektieren, ob die Liberalisierung der Weltwirtschaft und die damit verbundene Einflussschmälerung der im Wege stehenden Staaten in erster Linie wegen der Ressourcenströme erfolgte. Aber zweifellos nützt sie vor allem der globalen Ressourcenwirtschaft. Deren Konzerne waren die ersten richtigen Global Players; und die Ressourcenspieler machen die größten Umsätze – aus einem dauerhaften Geschäft, solange die Produktionsstrukturen, -techniken und -materialien der Weltwirtschaft auf fossile Ressourcen ausgerichtet sind.

Sie sind der harte Kern der „Old Economy“, sind elementar im Gegensatz zur „New Economy“: Mit Buchgeld und Daten kann man keine Lebensmittel, Häuser, Maschinen und Verbrauchsgüter produzieren und nicht mobil sein. Daten können nur die materiell begründeten Wirtschaftsprozesse schneller und effizienter machen, und mit Buchgeld kann man die Finanzierung erleichtern.

Dass sich die globale Zivilisation weiter und schneller entwickeln kann durch ungehinderten Informationsaustausch; dass es erstrebenswert ist, allen wirtschaftlichen Akteuren einen ungehinderten Zugang zu den produktivsten Technologien zu ermöglichen und es überall gleichen Zugang zu billigem Investitionskapital gibt, damit sich wirtschaftliche Initiativen entfalten können; dass die Menschheit dafür überall intakte natürliche Lebensgrundlagen braucht; dass es internationale Gewaltfreiheit und Friedenssicherung gibt – das alles ist wünschenswerte Globalisierung.

Nicht wünschenswert ist dagegen ein Liberalisierungsrahmen für die Weltwirtschaft, in dem die Ressourcenkonzerne noch ungehinderter ihre Stellung ausbauen und existenzielle Abhängigkeiten verstärken können – von den Agrarkonzernen bis zu den neuen Biopatentmonopolisten, von den internationalisierten Energie- bis zu den neuen Wasserkonzernen. Nicht wünschenswert ist, dass eine globalisierte Infrastrukturmacht[31]entsteht und den politischen Institutionen nur noch die Restaufgabe bleibt, die innere Sicherheit zu garantieren; eine Aufgabe, die den transnationalen privaten Unternehmenskooperationen zu lästig und zu teuer ist.

Wenn sich die politischen Institutionen die Kompetenz nehmen lassen, die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse in der jeweils nächstliegenden, praktikabelsten und flexibelsten, humanen und umweltschonenden Weise unter ihren konkreten Existenzbedingungen zu gestalten, stellen sie sich an den Rand der Geschichte – und mit ihnen geht dann den Gesellschaften die Fähigkeit zur Selbsterhaltung verloren. Dann werden sie Opfer einer Wirtschaftstheorie, die längst zur fundamentalistischen Ideologie geworden ist.

Zu den wichtigsten wirtschaftspolitischen Aufgaben eines Gemeinwesens gehört, Monopole zu verhindern. Eine Wirtschaftsordnung, in der mittlerweile sogar Regierungen dazu verpflichtet werden sollen, öffentliche Dienstleistungen flächendeckend zu privatisieren, ist nicht haltbar – auch dann nicht, wenn solche Übergriffe mit dem WTO-Vertrag völkerrechtlich abgesichert scheinen.

Wenn es technische Produkte und Naturprodukte nach denselben Marktordnungsregeln behandelt, betritt das neoliberalistische Dogma den Raum des Absurden.[32]Dann nämlich stellt es sich über die Naturgesetze. Produktionsflächen für Industriegüter kann man verlagern, die Produktionsflächen für Ressourcen nicht.[33]Die optimale Produktivität nach dem jeweiligen Stand der Technik können potenziell alle durch verfügbares Kapital und Informationen sowie durch Ausbildung und Infrastruktur erreichen; aber die jeweilige Ressourcenproduktivität hängt darüber hinaus nicht zuletzt von stets unterschiedlichen natürlichen Standortfaktoren ab, die nur bei Strafe der Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen manipulier- oder ignorierbar sind.

Die Ablösung der fossilen und der konsequente Aufbau einer erneuerbaren Energie- und Rohstoffbasis ist eine Grundbedingung dafür, dass die politischen Institutionen wieder in Kraft gesetzt werden können. Dies erfordert ein differenziertes Globalisierungskonzept, das nicht der unterschiedslosen Wirtschaftsliberalisierung verpflichtet ist.

Es kann kein „Bonum commune“ geben ohne Demokratie- und Umweltvorrang

Die Weltzivilisation kann ohne globale Wirtschaftsliberalisierung überleben, aber nicht ohne stabile Ökosphäre.[34]Daraus ergibt sich zwingend der Vorrang der Gebote einer ökologischen Ökonomie vor der puren Wettbewerbsökonomie, wenn immer diese beiden Prinzipien kollidieren. Nur dann lässt sich eine Globalisierung gestalten, die nicht zentral von den materiellen Ressourcenzwängen gesteuert ist, sondern die Optionen der Vielfalt und der Eigenständigkeit wieder greifbar macht.

Eine ökologische Ökonomie ist nur denkbar mit geringen Verlusten bei der Umwandlung von Energie und Rohstoffen (Umwandlungseffizienz[35]), mit stofflicher Wiederverwertbarkeit von Rohstoffen und der Erhaltung der nicht vermehrbaren, aber gleichwohl unverzichtbaren Ressourcen wie Wasser und Böden (Regenerierbarkeit erschöpflicher Ressourcen); und vor allem mit der Ablösung schadstoffhaltiger atomarer/fossiler durch erneuerbare Energien und fossiler Rohstoffe durch solche, die von der Natur fotosynthetisch hergestellt sind (Substitution fossiler durch solare Ressourcen).

Nicht zur Geltung kommen können diese Vorränge durch Marktgesetze, die die elementaren Unterschiede zwischen den Ressourcen ignorieren: Fossile Ressourcen, noch dazu mit geringer Umwandlungs- und Regenerierungseffizienz genutzt, verlangen in der Regel niedrige Initialkosten, führen aber zu erheblichen mittel- und langfristigen Folgekosten.[36]Solare und effizient sowie regenerierbar genutzte Ressourcen verlangen dagegen in der Regel höhere Initialkosten, führen aber zu vermiedenen Folgekosten. Prinzipiell Ungleiches darf aber nicht nach gleichen Marktgesetzen behandelt werden. Die Konsequenz daraus ist: Die Ressourcenwirtschaft darf nicht nach denselben Regeln einer liberalisierten internationalen Wettbewerbsordnung ausgerichtet sein wie denjenigen für Kapital, technische Produkte und Dienstleistungen. Ressourcenwirtschaft als elementare Bedingung jedweden Wirtschaftens darf keinem internationalisierten Markt- und damit potenziellen Verdrängungswettbewerb ausgesetzt sein, weil sonst potenziell jede Volkswirtschaft den Boden unter ihren Füßen verliert. Dies gilt für Energie, für den Agrarsektor, für die Wasser- und Bodenbewirtschaftung.[37]

Dieses Erfordernis ist eng verknüpft mit der Frage der politischen Selbstbestimmung. Die einzige legitime Existenzbedingung staatlicher Institutionen ist die, für das „Bonum commune“ zu sorgen – als Agenturen für das allgemeine Interesse und zugleich als Garant individueller Freiheit aller – und nicht weniger auf Kosten der vielen anderen. Der bedeutendste Schritt in diese Richtung – und der wohl wichtigste zivilisatorische Fortschritt – war und ist der demokratische Verfassungsstaat der Neuzeit, der gleiche Menschenrechte, Gewaltenteilung, demokratisch kontrollierte Selbstverwaltung gewährleistet – und auf diesem Wege die Lern- und Selbstkorrektur eines Gemeinwesens ermöglicht.

Dessen Bestand ist gefährdet, wenn ihm die Möglichkeit entzogen wird, die wirtschaftliche Existenz eines Gemeinwesens zu sichern. Demokratische öffentliche Institutionen können ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen, wenn sie einem Wirtschaftsdogma – gar mit internationalem Verfassungsrang – verpflichtet sind, das ihnen ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten nimmt. Sie müssen den Spielraum behalten, dieses dann infrage zu stellen, wenn es dem allgemeinen Interesse ihrer Gemeinwesen zuwiderläuft. Es geht dabei nicht um den Rückgriff auf den „Nationalstaat“, dessen Überwindung einst die sozialistische Bewegung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, bevor ihn der Globalkapitalismus als für sich vorteilhaft entdeckte und die Kritiker seiner asozialen Folgen als rückständig geißelt. Der Fokus ist nicht die Nation, sondern die demokratische Selbstverwaltung der Mitglieder eines organisierten Gemeinwesens.

Was bedeutet das? Allein die Wiedergewinnung der politischen Kontrolle über die internationalen Finanzmärkte[38]oder die Besteuerung von Finanztransfers – wie sie von Attac angemahnt wird – lösen das hier angesprochene Grundproblem nicht, so richtig diese Forderungen sind. Was wir brauchen, ist zum einen die Rekonstituierung öffentlicher Institutionen nach dem Grundsatz ihrer demokratischen Überschau- und Kontrollierbarkeit und zum anderen die Aufkündigung der vertraglich gestützten Hegemonie der global liberalisierten Wettbewerbsordnung. Dies bedeutet keineswegs die Rückkehr zum klassischen Protektionismus oder die Aufkündigung globaler Regelungsbedürfnisse, sondern eine differenzierte wirtschaftliche und politische Globalisierung.

Deren Grundregel wäre die strikte Beachtung des Reziprozitätsprinzips. Wenn ein Staat für sich die Notwendigkeit sieht und Maßnahmen ergreift, die internationale Marktgleichheit zu durchbrechen, muss er dies ohne willkürliche Diskriminierung tun. Konkret: Er muss legitimiert sein, umweltschädigende Produkte nicht in seinen Markt zu lassen – aber nur unter der Voraussetzung, dass er dieselben Auflagen auch gegenüber seinen eigenen Produzenten verfügt; er muss legitimiert sein, Produkte aus Sklavenarbeit von seinem Markt fern zu halten, aber nur, wenn er Sklavenarbeit in seinem Hoheitsgebiet auch nicht duldet.

Wenn man die Welthandelsordnung nicht als Obervertrag über alle sonstigen internationalen Verträge akzeptiert, dann ist es auch die falsche Forderung, den Welthandelsvertrag mit ökologischen und sozialen Elementen auszustatten: In diesem Fall würde es der WTO überlassen, welche Bestimmungen ökologisch und sozial ausgerichteter Völkerrechtsverträge – das ILO-Abkommen []oder das zur Biodiversität[39]– tatsächlich gelten. Ein Zielkonflikt zwischen solchen Verträgen und der Welthandelsordnung darf nicht von der WTO entschieden werden, sondern nur vom Internationalen Gerichtshof, der alle Aspekte und nicht nur den des internationalen Wettbewerbsrechts würdigen muss.[40]

Wenn es um die dauerhafte und ökologisch verträgliche Ressourcenverfügbarkeit von Volkswirtschaften geht, dann muss es jeder Gesellschaft möglich sein, die Sicherung ihrer Ressourcengrundlage vom Zwang globaler Marktgleichheit zu befreien. Globaler Technikmarkt – regionaler Ressourcenmarkt ist das Leitmotiv dafür: die Möglichkeit, heimische Ressourcen vor importierten zu privilegieren – aber nur für den eigenen Bedarf, nicht für den Export. Konkret bedeutet dies: Die Privilegierung erneuerbarer Energien im eigenen Land muss ebenso erlaubt sein wie eine Subventionierung der eigenen Landwirtschaft – aber eben nicht die Subventionierung von Agrarexporten.

Wir hätten längst nicht die Globalisierung heutigen Ausmaßes, etwa im Agrarhandel, wenn es nicht eine Privilegierung des Flug- und Schiffsverkehrs durch die Steuerbefreiung der Treibstoffe gäbe, was einer Diskriminierung des Landverkehrs und damit der mehr regionalen Vermarktungsströme gleichkommt. In dieser Frage wäre es sogar konsequent im Sinne globaler Wettbewerbsgleichheit, wenn diese Steuerbefreiungen für den Interkontinentalhandel aufgehoben würden, der ein dauernder Anschlag auf Kreislaufwirtschaften ist. Dass dies nie auf der Tagesordnung von Welthandelsordnungen stand, zeigt deren einseitige Orientierung zugunsten von „Global Players“ gegenüber „Regional Players“.

Vor allem aber: Indem die Substituierung fossiler Ressourcen durch solare Ressourcen erfolgt, würde von den Volkswirtschaften der unbedingte Globalisierungszwang genommen. Die Binnenwirtschaften würden gestärkt und ihre Zahlungsbilanz verbessert, wenn sie ihre Importabhängigkeit bei Ressourcen abbauen und die damit verbundenen Kosten vermeiden können, die sie zum Export strukturell zwingt. Eine Reregionalisierung wirtschaftlicher Kreisläufe würde sich einpendeln, und der globale Warenaustausch würde sich auf das konzentrieren, was jeweils andere tatsächlich attraktiver anbieten.

Nicht die uferlose wirtschaftliche Globalisierung, sondern die Revitalisierung regionaler Wirtschaftskreisläufe im Rahmen einer differenzierten Globalisierung ist die Perspektive, der wir uns stellen müssen. Nur dies kann die Zukunft der Demokratie sichern und die ökologische Weltkatastrophe verhindern. Demokratie und Naturgesetze haben Vorrang vor globaler Wirtschaftsfreiheit.

Für eine Wiederbelebung der Idee der Internationalisierung. Ein Nachtrag aus gegebenem Anlass

Die Massaker in New York und Washington, offenkundig von islamisch-fundamentalistischen Extremisten verbrochen, haben flugs das Stichwort vom „Kampf der Kulturen“ die Runde machen lassen. Die These des amerikanischen Politikwissenschaftlers Samuel P. Huntington, erstmals 1993 in einem Aufsatz in der Zeitschrift Foreign Affairs präsentiert, scheine – so Josef Joffe in der Zeit – „auf schrecklichste Weise Recht zu bekommen“.

Weil die USA die militärische und wirtschaftliche Globalmacht sind und das World Trade Center eine Art Zentralnervensystem der globalen Wirtschaftsordnung war, klingt schon die Einordnung der Mordattacke in das Spektrum der Globalisierungsgegner an. Die globale Ordnung wird ohnehin schon mit der wirtschaftlichen Globalisierung gleichgesetzt und diese mit der westlichen Zivilisation. Und der Mordbrand in Amerika wird in den ersten Reaktionen mehr als Kriegserklärung gegen diese „unsere Zivilisation“ wahrgenommen – und nicht etwa gegen jedwede Zivilisationsform. Die Frage ist, was an der These vom „Kampf der Kulturen“ richtig ist und welchen Zusammenhang dieser mit den wirtschaftlichen Globalisierungsfolgen hat. Sie sollte nicht so vorschnell beantwortet werden, wie es gegenwärtig getan wird.

Laut Huntington würden die künftigen Konflikte in der Weltpolitik nicht mehr in der Auseinandersetzung zwischen Staaten, sondern zwischen Kulturen ausgetragen: „Der mächtige Westen steht einem Nichtwesten gegenüber, der zunehmend den Wunsch, den Willen und die Möglichkeit besitzt, die Welt auf nichtwestliche Weise zu formen.“ Der Westen, neben dem es nur noch fünf andere größere Kulturkreise gibt, müsse deshalb darauf achten, dass er seine militärische Weltpräsenz erhalte, die ihm am nächsten stehenden Kulturkreise wie Russland und Japan durch enge Kooperation einbinde und eine militärische Erstarkung anderer möglichst verhindere. Es gelte, „innerhalb anderer Kulturen jene Gruppen zu unterstützen, die westlichen Werten und Interessen zuneigen“, und – nicht zu vergessen – „Unterschiede und Konflikte zwischen konfuzianischen und islamischen Staaten zu nutzen“. Damit beschreibt er diejenigen, auf die man sich konfliktorientiert einstellen solle: China und den islamischen Raum.

Doch ist mehr als fraglich, ob tatsächlich in der nichtwestlichen Welt zunehmend der Wunsch bestehe, sich nichtwestlich zu orientieren. Ist es nicht vielmehr so, dass die „westlichen Werte“ der Demokratie, der Individualisierung und vor allem die Konsumkultur weltweit immer mehr Attraktion erfahren haben? Der islamische Fundamentalismus kam schon zur Entfaltung, bevor die globalkapitalistische Wirtschaftsordnung verkündet und in internationales Vertragsrecht umgegossen wurde. Und Saudi-Arabien hat eine mittelalterliche islamisch-fundamentalistische Ordnung – als Staat, der als führender Ölexporteur sogar ein Hauptakteur und -profiteur der wirtschaftlichen Globalisierung ist.

Der islamische Fundamentalismus entstand keineswegs allein aus negativen Erfahrungen islamischer Völker mit westlicher imperialer Vormacht. Seine Triebfeder waren die gescheiterten Versuche jeweils einheimischer politischer Strömungen, mit dem Abendland identifizierte politische Ordnungs- und Gesellschaftskonzepte – ob des Kapitalismus oder des Sozialismus – in ihren Ländern zu realisieren. Doch sie produzierten massenhaft soziale Enttäuschungen, die die neuen Werte unglaubwürdig machten. Das so entstandene Wertevakuum machten sich die islamischen Fundamentalisten zunutze. Dies alles geschah auch ohne die gegenwärtige globale Wirtschaftsliberalisierung, siehe Iran, Afghanistan, Palästina und Algerien. Doch eine globale Wirtschaftsordnung, die soziale Perspektivlosigkeit für immer mehr Menschen produziert und ihr Wohlstandsversprechen nicht einlösen kann, ist ein Treibsatz für sich uferlos ausbreitende zivilisatorische Verwahrlosungen.

Es war und ist geschichtsvergessen, die politischen, sozialen und kulturellen Brüche in den Gesellschaften zu übersehen oder zu unterschätzen, die von einer einseitigen Interessen folgenden Globalisierung hervorgerufen werden. Genau das geschieht seit Beginn der Neunzigerjahre sogar verstärkt, seit aus dem Ost-West-Konflikt der westliche Kapitalismus als Sieger hervorging und sich zum weltweiten Ordnungsmuster zu machen versucht.

Seitdem ist zunehmend verdrängt worden, was zu den entwicklungspolitischen Erkenntnissen der Siebziger- und Achtzigerjahre gehörte: dass eine lineare wirtschaftliche Entwicklung, dem Muster der industriellen Staaten folgend, nicht möglich ist – es also um kulturell angepasste statt aufgesetzte Entwicklungen gehen muss und es nicht um deren Aufholen an unsere, sondern um eigene Entwicklungen geht. Die lineare Entwicklung der Industriesektoren war die des Übergangs vom primären Sektor (Landwirtschaft) in den sekundären (Industrie) und in den tertiären (Dienstleistungstätigkeiten), jeweils einhergehend mit dem Bedeutungsschwund des vormals maßgeblichen Sektors. Dies wird wie ein Naturgesetz der Wirtschaftsentwicklung betrachtet. Die Menschen, die durch Modernisierung der Agrarstrukturen ihre Existenz verlieren, erhalten eine neue in den neuen Industriestrukturen. Diejenigen, die hier durch die Produktivitätsentwicklung ihre Existenz verlieren, gewinnen eine neue in dem wachsenden Dienstleistungssektor.

Mindestens drei Faktoren durchkreuzen dieses Entwicklungsmuster – dem die konventionelle Entwicklungspolitik einschließlich der Kreditpolitik der Entwicklungsbanken bis heute folgt, so dass daraus oft tödliche Hilfe wurde.

Der Faktor Zeit: Wozu die Industriegesellschaften zweihundert Jahre Zeit hatten, kann ohne empfindliche Kulturbrüche und alle damit verbundenen Turbulenzen nicht in wenigen Jahrzehnten wiederholt werden. Der Faktor Technologie: Spätestens die Informationstechnologien führen dazu, dass die Menschen allerorten – vor allem, wenn ihre Volkswirtschaften einer wirtschaftsliberalen Weltordnung ausgesetzt sind – sowohl in den Agrar- wie in den Industrie- und den Dienstleistungssektoren gleichzeitig Erwerbsmöglichkeiten in großer Zahl verlieren. Als vierter Sektor wird nur der virtuelle – also ein physisches Nullum – angeboten. Der Faktor Ökologie: Die Heilsversprechen konventionellen Wirtschaftswachstums – alles Wissen vergessend, dass die Umweltschäden längst die wirtschaftlichen Nutzen zunichte machen – führen zur Eskalation der ökologischen Weltkrise und produzieren mittlerweile schon hunderte Millionen Umweltflüchtlinge.

Schon hat China, in weniger als zwanzig Jahren, durch die Kopierversuche bei seiner wirtschaftlichen Modernisierung über hundert Millionen obdachloser Wanderarbeiter produziert, die unberechenbare soziale Sprengsätze darstellen. Und was geschieht, wenn die weltmarktorientierte Modernisierung der indischen Landwirtschaft, mit westlichen Agrar- und Genfoodkonzernen als treibenden Kräften, durchgreift? Siebenhundert Millionen Menschen leben dort von kleinbäuerlichen Einkommen, und mindestens jeder zweite davon steht in den nächsten beiden Jahrzehnten vor der Existenzbedrohung und der Abwanderung in die schon jetzt slumumringten Städte.

Dies ist der Nährboden für die Entfaltung ethnozentrischer und religiös- fundamentalistischer Kulturideologien. Indem diese Zulauf finden und sich radikalisieren und extremisieren, sind vorzivilisatorische, archaische Gemetzel vorprogammiert. Eine Horrorvision, besonders wenn Steinzeitverhalten mit dem Einsatz moderner Technologien oder blindwütigen Attacken auf Kathedralen der technischen Moderne einhergeht. Dass dies nicht nur aus dem islamischen Raum heraus möglich ist, also kein Beleg für den „Kampf der Kulturen“ ist, zeigt sich nicht nur an der europäischen oder amerikanischen Fascho/Skinheadszene, sondern auch an den ethnischen Rasereien auf dem Balkan. Nicht kulturelle Unterschiede führen zu neuen heillosen globalen Konflikten. Die Widersprüche und Fehlentwicklungen der globalen Wirtschaftsliberalisierung sind es, die neonationalistischen, neofaschistischen, ethnischen und religiösen Fanatismen ungeahnten Auftrieb verschaffen.

Dies gilt besonders, wenn der globalwirtschaftliche Imperativ lautet: Wachst oder weicht, wendet oder endet, fresst oder sterbt! Nicht zufällig sind mit dem verschärften globalen Wettbewerb und dem Fällen der verächtlich als „Protektionismus“ denunzierten Wirtschaftsgrenzen (die immer dazu dienten, sich eigenständige Gestaltungsspielräume zu erhalten) auch kriegerische Vokabeln in die moderne Wirtschaftssprache eingeflossen. Der einstige VW-Manager José Ignacio López bezeichnete sich und seine Managertruppe als „Krieger“. „Economy is war without the shooting“, sagt die Journalistin Christiane Grefe zu dieser Einstellung.

Die Alternative zu dieser Globalisierung ist nicht pauschale Globalisierungsgegnerschaft, sondern die Wiederbelebung der Idee der Internationalisierung. Diese steht für die Überwindung nationaler und religiöser Autismen, das Überschreiten enger Wahrnehmungsgrenzen und die Mitverantwortung dafür, dass kulturelle, wirtschaftliche und politische Identitäten und gesellschaftliche Gestaltungsideen anderer respektiert werden. Die Idee wurde von der Sowjetunion missbraucht, als diese eine rigorose Gleichmacherei in ihrem Imperium betrieb. Diese identitätsschleifende Gleichmacherei wird nun unter dem Begriff der wirtschaftslibertären Globalisierung auf kapitalistische Weise wiederholt.

Doch es geht um die „Eine Welt“ in ihrer Vielfalt, um wechselseitige Bereicherung statt um Kampf der Kulturen. Ob dieser eingedämmt oder stimuliert wird, wird sich daraus ergeben, ob die globale Ordnung den Gesellschaften ihre eigenen existenziellen Gestaltungsspielräume lässt oder nimmt.

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