Zank auf Berliner Parteitag: Der große Graben der Grünen
Die Aussprache beim Parteitag der Grünen in Berlin offenbart vor allem eins: Eine Einigung ist nicht in Sicht. Die Mitschrift einer Tragödie.
Der Ort: Die mit über 250 Menschen übervolle Aula einer Sprachschule in Prenzlauer Berg. Bei einem kleinen Parteitag wollen die Grünen sich am Mittwochabend ausprechen - über alles, was im Wahlkampf schief gelaufen ist. Es geht aber auch um die Krise in der Fraktion, wo sich Linke und Realos gegenseitig blockieren. Am Vortag war der von den Linken angefeindete Fraktionschef Volker Ratzmann entnervt zurückgetreten.
Prolog: Der Landesvorstand legt eine Selbstkritik in fünf Punkten vor. Quintessenz: Richtig lief im Wahlkampf fast nichts.
Bettina Jarasch: "Als erste spricht unsere Spitzenkandidatin, äh, frühere …" Raunen.
Behrendt, Dirk - linker Erststimmenkönig mit Spaltungstendenzen
Birk, Thomas - Abgeordneter mit sonst nüchterner Wortwahl
Eichstädt-Bohlig, Franziska - einst Fraktionschefin, war mal links
Franke-Dressler, Irma - einst Landeschefin, war immer Reala
Herrmann, Monika - taz-lesende Kreuzberger Stadträtin, links
Jarasch, Bettina - Landesvorsitzende und Sitzungleiterin.
Kahlefeld, Susanna - Neu-Abgeordnete und Nicht-Migrantin, die die bisherige Integrationspolitik
Künast, Renate - gescheiterte, aber ansonsten unbeschadete Spitzenkandidatin
Lux, Benedikt - linker Grüner, der bei den linken Grünen nicht mehr gut gelitten ist.
Müller, Sieglinde - unterversorgte Spandauer Wahlkämpferin
Pop, Ramona - immer noch Fraktionschefin, echte Reala.
Ratzmann, Volker - Realo, zurückgetretener Fraktionschef, dennoch lautstark
Schellberg, Norbert- Oberealo aus dem schwarz-grünen Zehlendorf
Ströbele, Christian - von Seyfried-Plakaten verwöhnte Kreuzberger Partei-Ikone, natürlich links.
Thomas, Heiko - Künasts Wahlkampfmanager, jetzt Abgeordneter.
Wenke, Ronald - gut versorgter Zehlendorfer Wahlkämpfer
Und der Chor auf der vollbesetzten Pressebank.
Auftritt Renate Künast: "Es ist auch für mich eine gefühlte Niederlage, ich habe schon schönere Wahlkämpfe geführt. Es wäre einfach zu sagen, es lag an mir - glaube ich aber nicht."
Chor der Pressevertreter: Woran dann?
Künast: "Ich hätte viel früher darauf bestehen sollen, dass wir das Ganze strategisch zu Ende denken." Dann mit Blick auf langatmige Sitzungen: "Man kann sich bei uns den Hintern platt sitzen - so lange dauert nicht mal ein Sitz-Test bei Ikea."
Chor: Daran kann's ja wohl nicht gelegen haben.
Künast zum Streit in der Fraktion: "Wie soll uns denn einer glauben, dass wir Verantwortung für die ganze Stadt übernehmen können, wenn wir es nicht mal bei uns selbst können?" Applaus - zweimal in 20 Minuten.
Bettina Jarasch erklärt: "Ab jetzt spricht jeder drei Minuten."
Am heutigen Freitag will die Grünen-Fraktion ab 9 Uhr in einer Sondersitzung weiter nach einer Annäherung suchen - und nach fünf noch fehlenden Mitgliedern für den sechsköpfigen Vorstand. Gewählt werden sollen sie spätestens in der kommenden Woche, kündigte Fraktionschefin Ramona Pop an. Der Landesverband kommt nach dem Kleinen Parteitag vom Mittwoch voraussichtlich am 21. Januar in großer Runde bei einem Sonderparteitag zusammen. (sta
Irma Franke-Dressler, ganz die ehemalige Landesvorsitzende: "Denkt an eure Fehler und daran, dass es weitergehen muss!"
Sieglinde Müller, basiserprobt: "Ich stand im Wahlkampf mit einer halben Gasflasche da statt mit neun. Schnüre für die Luftballons hatten wir auch nicht. Dann kam Renate, hatte kein Wasser, hat meins getrunken. Hat geredet, bis die Batterie vom Megaphon leer war."
Chor: Klappt bei bei denen überhaupt irgendwas?
Roland Wenke, Ballonprofi: "Liebe Sieglinde, wir hatten neun Gasflaschen und genug Schnur."
Chor: Na geht doch!
Benedikt Lux sitzt in der letzten Reihe und sagt nichts.
Auftritt Christian Ströbele, der Saal ist mucksmäuschenstill: "Ich war dafür, dass Renate Künast Spitzenkandidatin wird. Aber wir hätten ihr von Anfang an ein Team an die Seite stellen müssen." Drei Minuten sind um, er spricht über die Plakate: "Ich hab' da auch gelitten: Zum Teil waren das Plakate für Bankangestellte, aber nicht für eine Spitzenkandidatin." Nach sechs Minuten meldet sich Jarasch zaghaft: "Christian, auch für dich gilt das Zeitlimit". Ströbele redet weiter.
Franziska Eichstädt-Bohlig, ganz die ehemalige Fraktionschefin: "Fangt endlich an zu arbeiten!" Sie redet weit über drei Minuten, die Basis buht.
Monika Herrmann: "Die Situation in der Fraktion ist ein Stellvertreterkrieg für die gesamte Partei. Um das zu lösen, brauchen wir das ganze Jahr 2012."
Heiko Thomas: "Ich kann mich nur entschuldigen für das, was wir in der Fraktion abgeliefert haben. Dafür habe ich mich nicht wählen lassen. Ich sehe drei Jahre vor uns, bevor wir uns Gedanken machen können, was vielleicht nach der nächsten Wahl 2016 ist."
Chor: Man reiche dem Mann die Asche für sein Haupt.
Ramona Pop dankt ihrem zurückgetretenen Kovorsitzenden Ratzmann: "Volker hat wesentlich dazu beigetragen, das Ansehen der Grünen zu erhöhen". Langer Beifall von allen Seiten. Rufe aus dem Publikum: "Ramona, deine Redezeit ist um!"
Pop redet weiter: "Ich lasse mir nicht einreden, dass wir in einer Sackgasse stecken und eine knallharte Niederlage erlitten haben." Buhrufe wegen Zeitüberscheitung. "Dann setze ich mich halt wieder hinten auf die Rednerliste". Tritt ab, vorerst.
Dirk Behrendt macht die Offenheit der Realos für eine Koalition mit der CDU für die Wahlschlappe verantwortlich: "Ich erwarte, dass hier Leute sagen: Das war falsch. Stattdessen machen sich hier alle einen schlanken Fuß." Applaus von links.
Volker Ratzmann knetet sein Kinn. Benedikt Lux rauft sich die Haare.
Ratzmann gibt kurz Fehler zu, erinnert sich dann daran, dass sich Behrendt in der taz dafür aussprach, Grün-Schwarz auszuloten: "Lieber Dirk, ich finde es geradezu bigott, wie Du Dich hier hingestellt hast." Fuchtelt mit dem Zeigefinger Richtung Behrendt. "Du wolltest an die Fleischtöpfe." Redet lauter. "Du hast mitgemacht!" Dreht weiter auf. "Jetzt übernimm auch die Verantwortung!" Die Menge tobt. Beim Rausgehen zum taz-Journalisten: "'Lautsprecher der Fraktion', das habt Ihr doch über mich geschrieben!"
Thomas Birk tritt als möglicher, weil zwischen den Flügeln stehender Kompromisskandidat für den Fraktionsvorsitz ans Mikro: "Wir haben jetzt in der Fraktion seit zwei Monaten nicht über Inhalte gesprochen. Dabei sind wir gar nicht so weit auseinander." Betont seine Nähe zu den Linken, ruft dann zu Behrendt: "Trotzdem mache ich nicht mit bei diesem Vernichtungsfeldzug, den Du, Dirk, führst." Tritt als kaum mehr möglicher Kompromisskandidat wieder ab.
Theresa Theune fragt die Wahlkampfführung nach dem Grund für die kritische Berichterstattung: "Was habt Ihr mit der Presse gemacht? Beim nächsten Mal koch ich gerne Kakao mit viel Zucker für die Journalisten!"
Chor: lächelt wissend.
Norbert Schellberg: "Ich fordere die Fraktion auf, am Kurs der Eigenständigkeit festzuhalten. 2001 hatten wir 9,1 Prozent, 2006 13,3 und jetzt 17,6 - ich möchte in diesen gesunden Raten weiter wachsen." Applaus von der einen Seite. "Spalter!"-Rufe von ganz hinten.
Susanna Kahlefeld: "Ein Weg der Eigenständigkeit bedeutet nur, dass man sich von der SPD absetzt und einen Kurs nach rechts anstrebt, was wir gerade bei der Integrationspolitik gesehen haben." Applaus von der anderen Seite.
Benedikt Lux geht.
Jochen Esser raunzt, schimpft, haut aufs Pult. Das Mikro droht zu Bruch zu gehen. Dass er überraschenderweise Ströbele zustimmt, geht unter. Später schimpft Esser ohne Mikro.
Epilog: Bettina Jarasch, nach fast vierstündiger Debatte auf dem Hof Bilanz ziehend: "Das musste halt alles mal raus!"
Stefan Gelbhaar, Ex-Landesvorsitzender und möglicher Kompromisskandidat für den Fraktionsvorsitz, der im Saal nichts gesagt hat: "Vorsicht, der tazler schreibt alles mit".
Chor der Pressevertreter will noch was beim Italiener gegenüber trinken. Da kommen die Grünen rein. Leichtes Murren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül