Vorschau auf den Euro-Gipfel: Wiener Kongress in Brüssel
Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Staatspräsident Sarkozy wollen um jeden Preis die EU-Verträge ändern. Das ruft Widerstand aus anderen Staaten hervor.
BRÜSSEL taz | Wieder einmal scheint es in Brüssel um Alles oder Nichts zu gehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy wollen zum x-ten Mal den Euro retten. Nach zahlreichen Fehlversuchen wollen sie es diesmal mit einer Änderung der EU-Verträge schaffen. Aber an der könnten sich die beiden die Zähne ausbeißen. Denn mit ihrem Auftreten sorgen sie auf europäischer Ebene zunehmend für Irritationen.
"Mit Drohungen etwas zu erzwingen, das ist nicht das Europa des 21. Jahrhunderts. Das ist der Wiener Kongress. So können Reformen nicht funktionieren", sagt der Vorsitzende der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, Martin Schulz. Auch zahlreiche EU-Staaten reagierten bereits mit Skepsis auf die deutsch-französischen Vorschläge, darunter Schweden und die Tschechische Republik.
In Berlin will man von diesen Bedenken nichts wissen. "Wir machen keine Kompromisse. Trippelschritte reichen nicht mehr aus. Ohne Vertragsänderungen wird es nicht gehen", hieß es aus Regierungskreisen. Der EU-Ratspräsident Herman van Rompuy hatte zuvor erklärt, eventuell seien Reformen auch ohne eine Vertragsänderung möglich.
Berlin sieht das anders: Falls nicht alle 27 mitmachen, müsse man sich eben mit den 17 Euroländern begnügen. Der Druck auf die EU-Staaten ist in den vergangenen Tagen noch einmal gewachsen, nachdem die Rating-Agentur Standard and Poor's gedroht hatte, die Zahlungsfähigkeit aller Eurostaaten herabzustufen. Um das zu verhindern, will Merkel im EU-Vertrag künftig eine Schuldenbremse für alle Eurostaaten und automatische Sanktionen für Defizitsünder einbauen. So will sie die Haushaltsdisziplin langfristig stärken.
"Ratifizierung kann Umsetzung verzögern"
Wenn sie ihre Kollegen in Brüssel davon überzeugen kann, heißt das noch lange nicht, dass die Änderungen tatsächlich kommen. Zunächst muss dann entschieden werden, ob die Änderungen so umfangreich sind, dass ein Konvent nötig wäre. In Berlin geht man davon nicht aus, vor allem, wenn sich nicht alle 27 Staaten an den neuen Regeln beteiligen wollen. Dann handele es sich, hieß es, um einen neuen zwischenstaatlichen Vertrag, nicht um eine Änderung im Rahmen der EU.
Sicher ist, dass die neuen Regeln in allen beteiligten Staaten ratifiziert werden müssen. Das kann durch die Parlamente oder durch Referenden passieren. "Bei der Abstimmung über den Rettungsschirm haben wir gesehen, dass die Zustimmung keinesfalls sicher ist. Die Ratifizierung kann die Umsetzung der Beschlüsse enorm verzögern", sagt Janis Emmanouilidis vom Brüsseler Think Tank European Policy Studies.
Bis zu zwei Jahren könnten die Vertragsänderungen letztendlich dauern. Auch deshalb findet der Rektor des Europakollegs in Brugge, Paul Demaret, das Gebaren Deutschlands und Frankreichs gefährlich: "Wenn die beiden die Meinung anderer Staaten weiterhin ignorieren, wird es sehr schwierig werden, später die Ratifizierung zu schaffen."
Demaret glaubt nur an grundlegende Reformen, die die Eurozone stabilisieren, wenn alle 27 mitmachen. Dafür muss Angela Merkel heute und morgen in Brüssel noch viel Überzeugungsarbeit leisten.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Prozess zum Messerangriff in England
Schauriger Triumph für Rechte
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Rückgabe von Kulturgütern
Nofretete will zurück nach Hause
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument