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Psychopillen mit PlacebowirkungPillen, an die man glauben soll

1,3 Milliarden Tagesdosen an Antidepressiva werden jährlich verordnet. Die Forschung wirbt für Therapien. Doch die bekommen nur wenige PatientInnen.

Es müssen nicht immer Pillen sein, manchmal hilft auch ein Hund zum Streicheln. Bild: dpa

BERLIN taz | Das neueste Geschoss kommt vom Arzneimittelkonzern Neuraxpharm: Tianeurax heißt das Antidepressivum, das jetzt auf den deutschen Markt kam und als Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (SRE) Depressionen bekämpfen soll. Die Pille sei besonders „gut verträglich“, wirbt die Firma. Das Präparat könnte den Verordnungsboom der Antidepressiva befeuern, den Kritiker misstrauisch beäugen.

„Es kann sein, dass aufgrund der besseren Verträglichkeit die Verordnungen eines Medikaments steigen“, sagt Gerd Glaeske, Arzneimittel- und Gesundheitsforscher an der Universität Bremen.

Rund 1,25 Milliarden durchschnittliche Tagesdosen an Antidepressiva werden inzwischen pro Jahr in Deutschland verschrieben, so der Arzneiverordnungsreport 2012. Damit hat sich die Zahl der verschriebenen Tagesdosen in zehn Jahren mehr als verdoppelt.

Antidepressiva

Trizyklische Antidepressiva: Sie gehören zu den älteren Medikamenten und hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin, Noradrenalin und Dopamin, haben aber Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Sedierung, Kreislaufstörungen, Gewichtszunahme.

Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI): Sie werden heute am häufigsten eingesetzt und blockieren die Rezeptoren, die für die Wiederaufnahme des Botenstoffs Serotonin zuständig sind. Als Nebenwirkung können Übelkeit und Unruhezustände auftreten.

Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI): Sie hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin und haben ähnliche Nebenwirkungen wie die SSRI.

Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker (SRE): Sie erhöhen die Serotonin-Rückaufnahme aus dem synaptischen Spalt. Als Nebenwirkungen des Arzneimittels können unter anderem Kopfschmerzen auftreten. (bd)

In der Verordnungspraxis der Hausärzte „traten die Antidepressiva die Nachfolge von Valium und Librium an“, sagt Glaeske. In den 60er und 70er Jahren verschrieben Hausärzte bedenkenlos Valium, wenn PatientInnen über Ängste und Verstimmungen klagten. Valium wie auch das bekannte Tavor gehören zur Gruppe der Benzodiazepine.

Erst als mehr und mehr valiumsüchtige Hausfrauen in den Entzugsabteilungen der Kliniken auftauchten, dämmerte den Medizinern, dass diese Pillen hochgradig abhängig machen.

Es folgte der Aufstieg der Antidepressiva, die zwar keine unmittelbare Sucht erzeugen, aber auch „Absetzprobleme“ schaffen können, so Glaeske. Zuerst kamen die sogenannten tri- und tetrazyklischen Antidepressiva auf den Markt, die nur leider häufig müde machen. In den 80er Jahren traten dann die Selektiven-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) auf den Plan, die aktivierender sind und weniger Nebenwirkungen haben.

Heute bekommen laut Daten der AOK sogar ein Drittel der Antidepressiva-Empfänger die Medikamente ohne Depressionsdiagnose verschrieben. Antidepressiva werden auch gegen chronische Schmerzen, Harndrang, Schlafstörungen, Menstruationsbeschwerden, Prüfungsangst und allerlei andere Malaisen eingesetzt.

Die Psychiatrie selbst hat sich durch die neuen Präparate in eine Art Chemiebaukasten verwandelt. Manche Psychiater geben heute für den Abend ein eher schlafanstoßendes Antidepressivum und für den Morgen ein Aktivierendes.

Heiß diskutiert wird in Fachkreisen die sogenannte Augmentation, wenn Patienten etwa neben einem Antidepressivum als Ergänzung ein Antipsychotikum erhalten.

Info-Austausch im Netz

Betroffene tauschen sich in einschlägigen Foren im Sound der Drogenerfahrenen aus, so etwa „JimBim“ im Blog „Psychiatrie to Go“ des Kölner Psychiaters Jan Dreher. „Zuvor meine einstweilige Diagnose: Gen. Angststörung mit Depression und leichtem Grübelzwang. Persönliche Favorites: Cymbalta (bestes AD) für mich), EsCitalopram (wunderbar bei Depri, aber zu schwach bei Angst/Panikattacken), Concor (zwar Betablocker, wirkt aber sehr beruhigend bei Brustenge). Absolutes No-Go: Zyprexa (gehört als Augmentation bei Depri verboteversorgungsn!!!)“.

Die Wirksamkeitsforschung liefert dazu ein vielschichtiges Bild. Die deutsche „Nationale VersorgungsLeitlinie S3“, die auf der Basis von Studien erstellt wurde, rät bei leichten depressiven Episoden zur Erstbehandlung, nicht generell Antidepressiva zu verabreichen.

Die Unterschiede zwischen Placebo und Antidepressiva seien bei den leichter Erkrankten „statistisch nicht nachweisbar“. Manche Hausärzte empfehlen gegen Depressionen ohnehin gerne auch Konkretes wie Ausdauersport, Chorsingen oder Kochkurse.

Vertrauen und Hoffnung

Der Verweis auf Placeboeffekte der Antidepressiva zieht eine bemerkenswerte Argumentation der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft nach sich. Die Kommission argumentiert in einer Stellungnahme, dass auch die Verabreichung eines Antidepressivums, das nur wie ein Placebo für eine gefühlte Linderung sorgt, immerhin besser sei als eine „Nichtbehandlung“.

Zumal die Pillen im Rahmen einer „von Vertrauen, Empathie und Hoffnung geprägten Arzt-Patienten-Beziehung“ verordnet würden, die an sich auch „therapeutisch wirksam“ sei. Im Klartext: Vor allem der Glaube an die Pillenwirkung hilft.

Bei mittelschweren bis schweren Depressionen profitieren immerhin zwischen 10 bis 30 Prozent der behandelten Patienten über die Placebo-Raten hinaus von Antidepressiva, so die Forschung.

Zur Behandlung von akuten leichten und mittelschweren Depressionen könne wahlweise eine Pharmakotherapie oder eine Psychotherapie angeboten werden, heißt es in der Leitlinie. Bei schweren und chronischen Depressionen sollte beides angewandt werden, eine Therapie mit Medikamenten und eine Psychotherapie.

Meist ohne Psychotherapie

Psychotherapien allerdings sind teuer und die Zuteilung ist sehr unausgewogen. Der GEK Arzneimittelreport 2009 zeigte, dass gerade ältere Frauen häufig Psychopharmaka ohne Psychotherapie bekommen. Laut der Erhebung macht unter den 30- bis 34-jährigen Frauen, denen Antidepressiva verordnet wurden, etwa jede Dritte auch eine Psychotherapie.

Bei den 60- bis 64-jährigen Frauen auf Antidepressiva bekam dies aber nur jede Achte. Generell werden Frauen fast um die Hälfte mehr Psychopharmaka als Männern verschrieben.

Die hohen Verschreibungszahlen gerade bei älteren Frauen werfen die Frage auf, ob nicht ein paar positive Altersbilder mehr für Frauen in der Gesellschaft vielleicht eine stärkere antidepressive Wirkung hätten als so manche Pille. Glaeske rügt: „Der Verordnungsboom ist auch eine Unterwerfung unter bestehende Verhältnisse“.

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13 Kommentare

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  • G
    gast

    Dass Antidepressiva im Vergleich zu Glück durch Sport oder Sex womöglich schlechter abschneiden, kann man da anhand zitate und Studien nachlesen in den Kommentaren

     

    http://forum.gofeminin.de/forum/carriere1/__f565_carriere1-Kennt-jemand-ein-wirksames-Antidepressivum.html#41r

     

    Und sogar beten wurde dort als hilfreich erachtet, obwohl der Argumentierer garnicht an Gott glaubt. Denn wenn placebo helfen, dann kann auch der Glaube helfen. ohhhmmmm

  • IA
    Interessanter ARD-Beitrag

    zum Thema "Antidepressiva" kürzlich erschienen.

    Wirkliche bestürzend aufklärend:

     

    "Gefährliche Pillen", Austrahlung am Montag 18.2.2013, Mediathek:

    http://www.ardmediathek.de/das-erste/reportage-dokumentation/gefaehrliche-glueckspillen-milliardenprofite-mit?documentId=13454184

    Youtube: http://www.youtube.com/watch?v=nINiF2KUpqg

     

    Das Werner-Fuß-Zentrum (Irren-Offensive e.V. und Landesverband Psychiatrie-Erfahrener Berlin-Brandenburg e.V.) kommentiert den Beitrag in dsmp (usenet, de, ..., psychiatrie) folgendermassen:

     

    "... Für uns ist die Szene ab der Minute 21:32 besonders bemerkenswert. Darin wird dokumentiert, wie ein Gericht in Harkema in den Niederlanden einem super Beweisantrag stattgegeben hat: ein wissenschaftlicher Nachweis über den Zusammenhang von Gefährlichkeit und Psychopharmaka-Einnahme musste erbracht werden.

    Solche Beweisanträge sollten in Zukunft immer auch in jedem Verfahren wegen einer Zwangsbehandlung vor deutschen Gerichten beantragt und stattgegeben werden, hat doch das Bundesverfassungsgericht am 23.3.2011 in 2 BvR 882/09 entschieden (Absatz 61):

     

    Über die Erfordernisse der Geeignetheit und Erforderlichkeit hinaus ist Voraussetzung für die Rechtfertigungsfähigkeit einer Zwangsbehandlung, dass sie für den Betroffenen nicht mit Belastungen verbunden ist, die außer Verhältnis zu dem erwartbaren Nutzen stehen. Die Angemessenheit ist nur gewahrt, wenn, unter Berücksichtigung der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten, der zu erwartende Nutzen der Behandlung den möglichen Schaden der Nichtbehandlung überwiegt. Im Hinblick auf die bestehenden Prognoseunsicherheiten und sonstigen methodischen Schwierigkeiten des hierfür erforderlichen Vergleichs trifft es die grundrechtlichen Anforderungen, wenn in medizinischen Fachkreisen ein deutlich feststellbares Überwiegen des Nutzens gefordert wird ..."

    Quelle hier:

    https://groups.google.com/forum/?fromgroups=#!topic/de.sci.medizin.psychiatrie/XD65flWHvdo

     

    Oder hier auf der Seite des WFZ:

    http://www.zwangspsychiatrie.de/2013/02/ard-reportage-gefaehrliche-pillen/

  • T
    tomas

    schönen gruss von der PHARMAINDUSTRY, die menschen sollen

    nicht gesund werden, sonst würden sie ja keine medikamente

    mehr brauchen und die Pharmaindustry kein geld mehr verdienen.

    Sie möchten "langzeitkranke" um ihnen 30 - 40 jahre lang

    ihren chemiedreck zuverkaufen...,

    dies gilt für alle "krankheiten", wer auch immer in unserer

    gesellschaft definiert was eine krankheit ist oder nicht.

    ( gutes beispiel ADHS )...,

  • D
    diplom_hartzi

    Also gegen Schmerzstörungen half mir immer noch der Orthopäde am besten und gegen Schwäche Schilddrüsenmedikamente bzw. Antibiotika. Aber mensch hat ja angeblich psychische Probleme, wenn das Immunsystem nicht allein mit Keimen fertig wird.

    Alles eine Frage des Budgets?

  • D
    deepthought

    natürlich sind antidepressiva allein keine lösung, aber wer noch nie schwer depressiv war, sollte nicht versuchen, menschen in solchen phasen ihres lebens davon abzuhalten diese zu nehmen, weil sie durchaus helfen können, überhaupt (!!) therapiefähig zu werden. ähnlich ist es übrigens auch bei anderen psychosen. sicher muss immer auch eine psychotherapie erfolgen, um eine dauerhafte heilung zu erreichen. aber generell die medis schlecht zu machen, ist - aus meiner erfahrung - den menschen, die keine erfahrung mit schweren psychischen erkrankungen haben, vorbehalten.

     

    ps: das "gras" unter nem psycho-artikel ist auch wieder mal der brüller.. wer denkt sich sowas aus? :D

  • N
    Neo

    Vielleicht sollte man als kritischer Patient/in einmal die medikamentöse Behandlungsform kritisch hinterfragen?

    wie laufen bio-chemische im menschlichen Körper ab, diese Fachliteratur kann man in öffentlichen Biblotheken jederzeit erhalten. Ich würde mal ein paar Bücher über Sportmedizin lesen!!!!

     

    Neo, die Unbestechlichen

     

    Tipp: Inside Steuerfahndung

  • P
    Psych

    Warum sind denn in den 60ger Jahren nur Hausfrauen abhängig geworden? Oder hat der Verfasser vergessen, die Macho-Brille abzusetzen.

    Sonst aber ein schöner einseitiger Artikel ohne viel Tiefgang. Passt sehr gut zur zitierten AOK - wegen der Kosten. Weniger gut passt er zur Lebenswirklichkeit vieler Menschen.

  • J
    Joachim

    Männer leiden wohl nicht an Depressionen. Nur alleine Frauen müssen leiden, nur Frauen werden ungerecht behandelt. Nur Frauen werden im Beruf gemobbt. Nur Frauen werden ungerecht bezahlt. Die Berichterstattung der TAZ ist an Einsichtigkeit kaum zu übertreffen.

  • MG
    markus gerat

    "Psychotherapien sind teuer..."

     

    dieser aussage möchte ich relativieren. psychopharmaka sind auch teuer.

     

    hier der vergleich: 1h psychotherapie pro woche kostet knapp 90 euro. das sind im monat etwas weniger als 360 euro.

     

    eine häufig verschriebenes medikemant trevi..r (ich möcht keine werbung machen) bei einer tagesdosis von 150 mg bei 30 tagen knapp 100 euro im monat.

     

    jetzt könnte man die rechnung aufmachen: psychotherapie kostet über ja bald das 4fache! rechnerisch richtig, aber:

     

    +es gibt viele psychopharmaka die deutlich teurer sind. z.b. ein monatsration cyprexa schon je nach hersteller etwa gleich viel wie psychotherapie.

     

    +psychoparmaka haben div nebenwirkungen, die folgekosten für das gesundheitssystem bedeuten können

     

    +psychotherapie erhöht die resilienz gegenüber einer erneuten "erkrankung" an einer z.b. depression im unterschied zu psychopharmaka die keine langzeitwirkung nach ende der pharmakotherpaie entfalten.

     

     

    stellt man die im artikel getroffene aussage, psychotherapie wäre teurer als pharmakotherapie in die hier angebrachten gegenargumente, ist die aussage nicht haltbar.

    • W
      WalterE
      @markus gerat:

      Für Zyprexa und andere Neuroleptika gibt es aber keine psychotherapeutische Alternative, was ihre Hauptindikation Psychosen betrifft. Psychotherapie kann hier zwar helfen, um besser klarzukommen. Aber mehr eben nicht.

  • WB
    Wolfgang Banse

    Pharmazeutische Mittel zu verschreiben und zu verabreichen ist bequemer und einfacher,statt Therapien durch zu führen.

  • VE
    Vermeintlicher Experte

    Diese Medikamente, sowohl Segen als auch ein Graus. Sicher werden sie öfter verschrieben als nötig, aber sie helfen auch Patienten, die sonst kein „normales“ Leben führen könnten. Insofern gut, dass es sie gibt.

  • A
    aka

    In Orwells Roman 1984 heist dass "Soma" - die taegliche Ration Glueck, staatlich verordnet, damit es sich munter und lustig weiterlebt in einem totalitaeren, menschenfeindlichen und kuenstlich-widernatuerlichen Albtraum, der sich moderne Gesellschaft nennt.