Pawlowsche Konditionierung im Heim: Hamburg lässt einsperren
Ein Hamburger Skandalheim für auffällige Kinder ist geschlossen. Jetzt schickt das Land sie in die autoritäre Brandenburger Haasenburg.
HAMBURG taz | Geschlossene Heime brauche Hamburg nicht, heißt in einer neuen Senatsdrucksache zur Jugendgewalt. Schließlich gebe es genug Plätze außerhalb. Die meisten Jugendlichen, derzeit 15, schickt Hamburg seit Schließung des Heims in der Feuerbergstraße Ende 2008 in die drei privatwirtschaftlich betriebenen Heime der Haasenburg GmbH in Brandenburg. Doch deren autoritäres Konzept sei kaum besser als das des geschlossenen Hamburger Skandalheims, sagt Anwältin Jianka Pigors. „Es ist eine Schande, dass Hamburg Kinder dorthin schickt.“
Vier Meter hohe Mauern, wie in der Feuerbergstraße, gibt es dort nicht. Aber es gibt abschließbare Türen und Fenster. Und es gibt Menschen, die diese Mauern ersetzen, und sehr strenge Verhaltenregeln. „Das ist Dressur statt Erziehung“, sagt Pigors. Sie ist nur eine von mehreren Anwälten, die durch Berichte von Jugendlichen und deren Angehörigen alarmiert sind. Doch sie dürfen nur begrenzt offen reden, weil Familiengerichtsverfahren nicht öffentlich sind.
Einen erschütternden Text über ihre Zeit in der Haasenburg hat die heute 20-jährige Ex-Insassin Julia zu Jahresbeginn ins Netz gestellt. Lieber hinter Mauern.
Sie durfte keine eigene Kleidung tragen, musste einen großen Teil ihres Aufenthalts isoliert in ihrem Zimmer verbringen und durfte zeitweise nicht mal allein aufs Klo. „Mauern wären mir manchmal lieber gewesen“, kommentiert sie die Vorfälle, bei denen mehrere Betreuer sie auf den Boden niederdrückten - und sie sich jedes Stück Losgelassenwerden durch Wohlverhalten verdienen musste. Julia zur taz: „Das passierte, wenn man sich einer Anweisung widersetzte.“ Das Mädchen war von 2006 bis 2008 in der Haasenburg und hat Anfang 2012 Anzeige wegen Körperverletzung gegen Mitarbeiter gestellt.
Glaubt man den Anwälten der Kinder, hat sich seitdem nicht viel geändert. Noch immer seien die Jugendlichen zunächst in „Phase rot“ allein auf ihren Zimmern. „Die Türen sind angelehnt oder offen. Sie verbringen die ganze Zeit ohne Kontakt zu anderen Jugendlichen auf ihrem Zimmer“, sagt ein Anwalt. Wenn sie etwas wollten, etwa auf die Toilette gehen, müssten sie an die Tür klopfen, ihren Namen rufen und warten, bis jemand kommt. Jede Verbesserung - ein Plakat an der Wand, Unterricht in der Gruppe - müssten sie sich durch Gehorsamkeit verdienen. Dazu zähle auch die Mimik. „Wenn ein Jugendlicher mit den Augen rollt, gibt es am Abend keinen Chip.“
Die Hausregeln aus dem Jahr 2010 liegen der taz vor. Auszüge:
Jugendliche sollen stets rechts von Erziehern gehen und zu allen Personen eine Armlänge Abstand halten.
Gespräche über Flucht sind untersagt. Auch Gespäche unter Jugendlichen über ihre Straftaten.
Während der Dienstzeit ist der Mund geschlossen.
Die Jugendlichen sollen keine wiederkehrenden Forderungen stellen.
Es wird weder getuschelt, geflüstert oder in einer Fremdsprache gesprochen werden.
Das aktuelle Regelwerk ist moderater. Aber auch hier ist unter anderem Körperkontakt zu anderen Jugendlichen „nicht erlaubt“ und die Kontrolle von Briefen und Telefonaten möglich.
Diese Holzmünzen seien die Währung in dem Heim, die die Insassen sammeln müssten, damit sie abends länger wach bleiben dürfen oder statt eines Bleistifts einen Kugelschreiber erhalten. Lieber wäre er fünf Jahre im Knast als noch länger in der Haasenburg, flehte jüngst ein Junge laut Protokoll einer gerichtlichen Anhörung. Das Gericht entschied, ihn weiterhin dort unterzubringen, trotz der umstritten Erziehungsmethoden. Fixierung auf einer Liege.
Rastet ein Jugendlicher aus, kommt er in einen „Anti-Aggressionsraum“. In dem gab es bis vor zwei Jahren noch eine Liege, auf der Jugendliche fixiert werden können. Inzwischen hat das Landesjugendamt dies unterbunden. Damit sie weniger aggressiv sind, bekommen einige Insassen zudem von Ärzten vor Ort das Beruhigungsmittel Risperdal verordnet. Und Betreuer dürfen deren Post lesen, Telefonate der Jugendlichen mitgehört werden.
Der taz liegen die Hausregeln aus dem Jahr 2010 vor, die Jugendliche wie Julia oft abschreiben mussten. Hat ein Jugendlicher Sorgen, gibt es einen "Kummerkasten" der Heimleitung, wenn das nicht hilft, eine „unabhängige Beschwerdekommission“. So etwas sei „durchaus nicht branchenüblich“, heißt es in der Stellungnahme der Haasenburg zu einem Bericht über den Fall Julia, der im Juni in der Jungen Welt erschien.
Zu Einzelfällen äußert sich die GmbH aus Datenschutzgründen nicht, eine Anzeige ist nicht bekannt. Das verhaltenstherapeutische Konzept biete Halt für Jugendliche, die bisher in ihrem Leben wenig Regeln kennengelernt hätten, so die Einrichtung.
Die taz wollte wissen, wer in der Beschwerdekommission sitzt. Laut Landesjugendamt Brandenburg ist der Hamburger Jugendhilferechtsexperte Christian Bernzen, zugleich SPD-Landesschatzmeister, der Ansprechpartner für die Jugendlichen. Er sei zugleich Rechtsbeistand der Haasenburg. Auf diese Doppelfunktion angesprochen, erklärte Bernzen der taz, er habe beide Aufgaben „streng getrennt“, sei aber vom Kommissionsvorsitz „mit Schreiben von heute zurückgetreten“.
Die Pressearbeit der Haasenburg macht Bernzens Bruder Hinrich Bernzen. Der nannte auf taz-Nachfrage denn auch einen anderen Ansprechpartner für die Jugendlichen. Öffentliche Berichte über die Arbeit der Kommission gebe es „selbstverständlich keine“, da es sich um konkrete Fälle der Jugendlichen handele. Nach Darstellung von Hamburger Sozialbehörde, Landesjugendamt Brandenburg und der Haasenburg GmbH selbst hat sich in der Haasenburg in den vergangenen zwei Jahren sehr viel verändert, nachdem das Landesjugendamt Auflagen erteilte.
„Beschwerden haben wir zurzeit keine“, sagt Landesjugentamtleiter Karsten Friedel. Statt eines „Time-out-Raumes" gebe es dezentrale „Anti-Aggressionsräume“ in den Gruppenbereichen. Um Aggressionen frühzeitig einzudämmen, gebe es eine Stufenplan. Jede Anti-Aggressions-Maßnahme werde zudem schriftlich gemeldet. Friedel: „Es gab einen Reflektionsprozess in der Haasenburg.“
Auch von der Hausordnung gibt es inzwischen eine abgemilderte Fassung. Laut Haasenburg-Geschäftsführer Mario Bavar ist es nicht wahr, dass sich Jugendliche Gegenstände für ihr Zimmer „verdienen“ müssten. Lediglich wenn Jugendliche sich oder andere gefährden, könne es sein, dass persönliche Sachen "nicht permanent im Zimmer sind".
Anwälte dagegen monieren, dass sich das Grundkonzept einer Art „pawlowschen Konditionierung“ nicht geändert habe. Auch Bela Rogalla, Landessprecher der Linken in Hamburg, spricht von einem „autoritären Konzept“, das Jugendliche zu „Befehlsempfängern“ degradiere. Nach der Schließung der Feuerbergstraße müsse auch die Unterbringung von Kindern in der Haasenburg beendet werden.
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