Ökonom über die Eurokrise: „Griechenland schafft es“
Im Krisenland gibt es starke Forschungsinstitute und eine interessante Gründerszene, sagt der Ökonom Alexander Kritikos. Das Land bleibt in der Eurozone.
taz: Herr Kritikos, Griechenland ist verloren, oder?
Alexander Kritikos: Das würde ich so nicht sagen: Es hat sich viel getan. Die Griechen mussten unter harten Reformen leiden, insbesondere die kleineren Leute: die Rentensenkung, die von der Troika erzwungene Absenkung der Löhne für Staatsbedienstete, aber auch in der Privatwirtschaft. Halbherzig sind bislang die Strukturreformen: Der Privatsektor leidet immer noch unter einer Last von Bürokratie.
Was fehlt?
Wer mit kleineren Unternehmen spricht, hört: 30 Prozent meiner Arbeit benötige ich für Papierkram und Behördengänge.
Das ist in etwa so, als ob man einen Antrag stellt, Geld von der EU zu bekommen.
Ungefähr. Gleichzeitig geht die Regierung nicht gegen die oligarchischen Strukturen vor und unternimmt beispielsweise nichts gegen die 2.000 Leute der Lagarde-Liste. Das sind Steuerflüchtige, über die die Regierung 2010 durch die damalige französische Finanzministerin erfuhr. Das hat negative Auswirkungen auf die Akzeptanz für Reformen beim Rest der Bevölkerung.
Ein Schuldenschnitt ist wie „Zahnweh. Es ist schmerzhaft, aber wenn man länger wartet, wird der Schmerz nur größer“, sagte unlängst ein Politiker. Was meinen Sie?
Es ist relativ klar, dass wir einen zweiten Schuldenschnitt brauchen. Der Schuldenstand liegt bei 175 Prozent der Wirtschaftskraft. Die Zinsen dafür wird Griechenland auf absehbare Zeit nicht erwirtschaften. Höchstens 120 Prozent sind tragbar.
Jahrgang 1965. Der Wirtschaftsprofessor ist Forschungsdirektor für „Entrepreneurship“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin.
Das sind etwa 100 Milliarden Euro, für die vor allem staatliche Investoren bluten müssten.
Deshalb hat sich vor der Europawahl auch kein Politiker zum Schuldenerlass geäußert. Zwar hat sich Athen nun erstmals wieder selbst Geld am Kapitalmarkt besorgt. Aber nur, weil den Investoren klar war, dass zur Not die Europäische Zentralbank einspringt und sonst niemand 5 Prozent Verzinsung bietet. Genau wie die Meldung vom Etatüberschuss, wenn man den Schuldendienst nicht einrechnet: Wahl-PR. Tatsächlich sind unbezahlte Rechnungen aus dem Gesundheitswesen nicht einkalkuliert.
Das argwöhnt auch der Chef der europakritischen AfD, Bernd Lucke – das Zitat mit dem Zahnweh stammt auch von ihm.
Abgesehen von ihrer unerträglichen Deutschtümelei glaubt die AfD offensichtlich nicht, dass sich andere Länder reformieren können. Ich sehe das anders. Außerdem haben die Deutschen in den letzten Jahren enorm vom Euro profitiert. Daher wird kein Weg daran vorbeiführen, dass Deutschland bei diesem Schuldenschnitt in die Kassen des europäischen Hauses einzahlt. Es wäre allerdings sinnvoll, diese Zahlungen an weitere Reformen zu binden.
Wäre das nicht verlorenes Geld? Nach zwei Hilfspaketen leben über 250.000 Griechen von Suppenküchen, 26 Prozent sind arbeitslos. Ohne Deutschland wäre der Euro wohl undenkbar – aber auch ohne Griechenland?
Die Perspektive finde ich dunkelgrau: Zu Zeiten der Drachme gab es 30 Prozent Inflation und keine Investitionen. Der Euro ist eben auch zu einem Mittel der politischen und wirtschaftlichen Integration geworden. Die Frage lautet nicht: Braucht der Euro die Griechen? Sondern: Welche Vorteile bringt der Euro den Griechen? Was müssen sie tun, damit sie diese Vorteile besser nutzen?
Ja was?
Griechenland hat im Prinzip alles, um so innovativ zu sein wie Deutschland oder Schweden. Es gibt hervorragende Forschungseinrichtungen wie das Demokritos-Institut in Athen, das Forthauf Kreta, das Certh in Thessaloniki. Es gibt dort von der EU ausgezeichnete Forschung, etwa in den Bereichen Physik, Biologie, Nanotechnologie, Biotech. Was fehlt, sind Fraunhofer-Institute, also anwendungsnahe Forschung. Griechenland gibt zurzeit 0,6 Prozent der Wirtschaftsleistung für Forschung und Entwicklung aus, Deutschland etwa 3 Prozent. Hier ist der wichtigste Ansatzpunkt: Investitionen in unternehmensnahe Forschung, damit sich eine exportfähige Produktionsstruktur entwickeln kann.
Derzeit ist die Wirtschaft wenig innovativ: Exportiert wird vor allem billiger Wein.
Leider. Wir sollten den Tourismus als zentrales „Exportgut“ nicht vergessen. Was aber viel wichtiger ist: Auch im Biotech- und im IT-Bereich hat Griechenland Stärken, es gibt eine richtig interessante Hightech-Gründerszene in Athen – hier muss man investieren.
Wer soll das zahlen?
Die EU hat eine Reihe von Programmen und Strukturfonds oder das Forschungsprogramm Horizon 2020, die helfen, Investitionen in Innovationssysteme zu finanzieren. Andere Länder haben es geschafft, warum soll es Griechenland nicht schaffen?
Die Angst vor Veränderungen und die Wut über die Reformen sind groß. Seit 2010 gab es landesweit über 20.000 Demonstrationen. Ist Griechenland überhaupt EU-kompatibel?
Ein Teil des Landes steckt in der Vormoderne, einige zelebrieren noch das Bild vom bösen Kapitalismus. Man schaue sich nur das patriarchalische Wahlgeschenk für den „kleinen“ Mann von Regierungschef Antonis Samaras an: Alle, die weniger als 6.000 Euro im Jahr verdienen, sollen 700 Euro geschenkt bekommen – das ist ein falsches Signal. Aber das ist nur ein Teil des Bildes. Gleichzeitig gibt es eine neue Generation, die definitiv einen anderen Staat will.
Bei den EU-Wahlen wurden rechter und linker Rand gestärkt, einige Politiker des Wahlsiegers, die Linkspartei Syriza, forderten schon die Rückkehr zur Drachme. Zerbricht Griechenland?
Nein. Die Forderung nach dem Euro-Austritt hat Syriza sogar Stimmen gekostet. Immerhin hat To Potami, die neue Partei des Journalisten Stavros Theodorakis, fast 7 Prozent bekommen. Sie kommt aus der Mitte, vielleicht wäre das eines Tages ein Koalitionspartner für Samaras.
Samaras sagt, Griechenland sei über den Berg. Stimmt das?
Nein.
Ist das Land in fünf Jahren noch im Euro?
Definitiv.
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