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Neue soziale Bewegung in FrankreichDebattierend durch die Nacht

Eine basisdemokratische Bewegung formiert sich in Frankreich. „Nuit debout“ nennt sie sich. Ein Besuch auf der Place de la République in Paris.

Wie geht es weiter? Das fragen sich viele junge Leute in Frankreich Foto: dpa

Paris taz | Sie wollen sich nicht einlullen lassen oder schlafen gehen. Darum harren sie jeden Abend bis in den Morgen auf der Place de la République aus. „Nuit debout“ nennen diese Wachgebliebenen ihre Bewegung. Es sind jeweils Hunderte und manchmal mehr als tausend, die sitzend oder stehend die Nacht durch und debattieren. Auch auf Plätzen in Rennes, Nantes und Toulouse versammeln sich die Menschen. In Lyon sperrte die Polizei einen Platz ab. Darauf zogen die Demonstranten unter eine Brücke.

Ein frühlingshafter Revolutionshauch weht über die symbolische République. Rund um die Säule in der Platzmitte leuchten kleine Kerzen zum Gedenken an die Opfer vom 13. November. „Même pas peur!“ (Wir haben nicht mal Angst!) steht auf einem weithin sichtbaren Schild.

Viele sind auch aus Neugier gekommen, weil es sich herumgesprochen hat, dass auf der République etwas läuft. Ein wenig Partystimmung ist unübersehbar. Es riecht nach Cannabisrauch und nach Merguez-Grillwürsten. Oft funktioniert das Megafon nicht. Das Publikum muss als Lautsprecher dienen: „Ich habe ein Idee“, sagt ein junger Mann, und alle um ihn herum Sitzenden wiederholen wie der Chor einer griechischen Tragödie: „Ich habe eine Idee.“

Begonnen hat diese Bewegung Anfang April. Nach der Kundgebung gegen die Reform des Arbeitsmarkts wollten viele Demonstranten ganz einfach nicht tatenlos nach Hause gehen. Sie blieben darum auf dem großen Platz im Zentrum von Paris und versprachen, dort die Nacht über aufzubleiben, um über den Fortgang des Widerstands und den (desolaten) Zustand der regierenden Linken zu diskutieren.

Einzige Regel: Basisdemokratie

Seither findet jeden Abend eine solche Versammlung statt. In der Diskussion werden Forderungen, Perspektiven, Alternativen und Methoden erörtert und themenspezifische Kommissionen gebildet, die ihre Ergebnisse dann wieder in die Vollversammlungen einbringen sollen. Die einzige Regel ist die Basisdemokratie. Wenn immer nötig, wird mit erhobener Hand abgestimmt.

Als ob Stéphane Hessels Appell „Indignez-vous!“ (Empört euch) ein spätes Echo gefunden hätte, regt sich an der Basis der französischen Linken ein Jahr vor dem Ende des sozialistischen Präsidenten Widerstand, der nicht mehr passiv bleiben will. „Ich bin gekommen, um euch zu danken“, sagt eine junge Frau per Megafon, „denn ich bin Sozialistin, und bisher habe ich daheim allein geweint. Dank euch weiß ich, dass ich nicht die Einzige bin.“

Ich bin Sozialistin. Bisher habe ich daheim allein geweint

Junge Frau in Paris

Es braucht Mut, sich hier unter diesen entschiedenen Gegnern der Regierungspolitik als Mitglied der Parti Socialiste zu „outen“. Die Rednerin aber bekommt herzlichen Applaus. Dazu schwenken die ZuhörerInnen lautlos die Hände, wie dies Gehörlose zum Zeichen ihrer Zustimmung zu tun pflegen. Diese Reaktion illustriert auch, wie groß die gegenseitige Toleranz ist.

Genau das gefällt dem 22-jährigen Martial, der an der Universität Tolbiac studiert. Er sagt von sich, er sei politisch „engagiert“, aber nicht Mitglied einer Partei: „Jeder kann die Hand heben und sich zu Wort melden, alle haben die gleichen Rechte. Ich habe so etwas noch nie erlebt.“

Empörung, jetzt

In ähnlicher Weise bezeichnet sich Florent selber als „frei schwebendes Elektron“ in der Politik. Er hatte 2012 „in Ermangelung einer besseren Alternative“ Hollande gewählt, „um Sarkozy loszuwerden“. Die autoritäre Sicherheitspolitik und den Angriff auf das Arbeitsrecht der jetzigen Regierung empfindet er „wie eine Ohrfeige“. Florent ist 38 Jahre alt und arbeitslos. Er notiert Termine und fasst Vorschläge zusammen und leitet sie per Twitter (#NuitDebout) weiter.

Der 25-jährige Rémy Buisine hat von Beginn weg mit seinem Smartphone die Vorgänge der „Nuit debout“-Bewegung gefilmt und dank der Applikation Periscope live übertragen. Bis zu 80.000 Leute haben sich das jeweils angeschaut. Buisine zählt nach Meinung von Libération bereits zur französischen Internetprominenz. Einige Ideen machen die Runde, so der Vorschlag, das Volk solle wie 1789 vor der Revolution nach dem Vorbild der historischen „Cahiers des doléances“ seine Beschwerden bei der Staatsführung geltend machen.

Lange hatte man sich in Europa gewundert, warum es ausgerechnet in Frankreich keine Bewegungen im Stil von Occupy oder Podemos gab. Doch nun empören sie sich. Hollande hat es mit einer Politik in Widerspruch zu seinen eigenen Wahlversprechen doch noch geschafft, die Linke zu mobilisieren – allerdings gegen sich.

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1 Kommentar

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  • Lieber Herr Balmer,

    Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass das von Ihnen verwendete Wort "Taubstumme" nicht die Realität wiederspiegelt und daher (übrigens auch im Französischen) als diskriminierend einzustufen ist. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es gegen "Taube" oder "Gehörlose" (frz. "les sourds") austauschen könnten.

     

    Hier ein Hinweis aus dem Duden (http://www.duden.de/rechtschreibung/taubstumm):

     

    "Die früher übliche Bezeichnung taubstumm sollte nicht mehr verwendet und auf Wunsch der Betroffenen durch gehörlos ersetzt werden. Durch den Wortbestandteil stumm wird fälschlicherweise die Unfähigkeit zu sprechen unterstellt. Dies kann jedoch spätestens seit Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständiger Sprache nicht mehr als Bezeichnungskriterium verwendet werden; auch die Bezeichnung Taubstummensprache ist dadurch heute kaum mehr gebräuchlich."