Nach dem Grubenunglück in der Türkei: „Kein Unfall – Mord“
Über 240 Kumpel tot, 120 eingeschlossen – das ist der Stand nach dem Grubenunfall in Soma. Nun gehen wütende Demonstranten auf die Straße.
ISTANBUL taz/dpa/afp | Die türkische Polizei ist in der Hauptstadt Ankara gegen tausende Demonstranten vorgegangen, die wegen des Grubenunglücks in der Stadt Soma auf die Straße gezogen waren. Wie ein Fotograf berichtete, setzten die Sicherheitskräfte am Mittwochabend Tränengas und Wasserwerfer gegen die Menge ein. Aus ihr waren zuvor Feuerwerkskörper in Richtung Polizei abgeschossen worden. An der Demonstration in der Hauptstadt beteiligten sich 3.000 bis 4.000 Menschen.
Auch in Soma und Istanbul hat es Proteste gegeben. Die Sicherheitskräfte setzten am Mittwochabend auf der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi Wasserwerfer und Tränengas ein. Die Polizei hinderte die Demonstranten daran, weiter in Richtung des zentralen Taksim-Platzes vorzudringen. Die Demonstranten in Istanbul hatten nach dem Grubenunglück den Rücktritt der Regierung gefordert. Einige hielten Plakate in die Höhe, auf denen in Anspielung auf die zahlreichen Toten stand: „Kein Unfall - Mord“.
„Ich warte hier seit Dienstagnachmittag. Mein Sohn ist in der Grube, ich habe immer noch keine Nachricht von ihm“, sagt eine Mutter, die in Soma direkt vor dem Ausgang der Kohlenmine von einem TV-Sender interviewt wird. Mühsam hält ein Verwandter die Frau auf den Beinen. Immer wenn eine Leiche aus dem Schacht getragen wird, schauen sie und andere Frauen dem Toten ins Gesicht. Ein grausames Ritual, das so bald nicht zu Ende sein wird.
Am Dienstagnachmittag brach in der Kohlengrube in Soma, einer Kleinstadt in der westanatolischen Provinz Manisa, Feuer aus. Offiziell heißt es, in einem Trafo in 400 Meter Tiefe habe es einen Kurzschluss gegeben, der zu einem Kabelbrand geführt und den mittleren Schacht in Brand gesetzt habe.
Elektrik kollabiert
Gerettete Bergleute dagegen berichten von einer Gasexplosion als Auslöser. Sicher ist: Die gesamte Elektrik kollabierte – auch die Aufzüge funktionierten nicht mehr, mit denen die Bergleute das Bergwerk hätten verlassen können. Außerdem sollen die Ventilatoren für die Belüftung ausgefallen sein, so dass viele erstickten. Und die Druckluft, die von oben in die Schächte gepresst wurde, um die ausgefallene Belüftung zu ersetzen, heizte das Feuer weiter an, so dass am Mittwoch offenbar ganze Flöze in Flammen standen.
Bis Mittwochnachmittag konnte der Brand nicht gelöscht werden. Knapp 800 Kumpel – genaue Zahlen hatte niemand – sollen im Bergwerk gewesen sein, als das Feuer ausbrach. In der ersten Stunde nach dem Brand konnten sich rund 300 retten, weitere 80 wurden teilweise schwer verletzt von Rettungskräften geborgen. Bis Mittwochabend wurden offiziell 245 Kumpel tot geborgen. 120 sind demnach noch eingeschlossen.
Wie viele der eingeschlossenen Bergleute zu dem Zeitpunkt noch am Leben waren, wusste in Soma niemand zu sagen. Verantwortliche sprachen von zwei Luftblasen, die sich gebildet hätten und in denen möglicherweise noch Überlebende zu finden seien. Allerdings schwand die Hoffnung für die Eingeschlossenen von Stunde zu Stunde. Während das Krankenhaus und das Kühlhaus der Stadt voller Leichen war, wurden auf einem nahe gelegenen Grasfeld bereits die Gräber ausgehoben.
Mit Wasserwerfern gegen Studenten
Am Ende könnten rund 450 Menschen unter Tage ihr Leben gelassen haben. Am Mittwochnachmittag kam dann auch Ministerpräsident Tayyip Erdogan mit seinem halben Kabinett in Soma an. Energieminister Taner Yildiz, der bereits seit Dienstag vor Ort war, unterrichtete ihn über die Situation. Abgeschirmt von Polizei und Gendarmerie, die bereits Stunden vor dem Premier eingetroffen waren, besichtigte Erdogan den Eingang des Stollens und begab sich dann ins Rathaus von Soma.
Ebenfalls vor Ort war der Grubenbesitzer Alp Gürkan. Der ist offenbar mit Erdogans Partei AKP gut vernetzt: Seine Frau sitzt für die AKP im Stadtparlament, Gürkan hat die Grube 2005 vom Staat übernommen. Özgür Özel, Parlamentsabgeordneter der oppositionellen CHP aus Manisa, berichtete, Alp Gürkan habe während der Kommunalwahlen im März seine Arbeiter genötigt, zu der Kundgebung Erdogans in Manisa zu gehen. Ihnen seien ihre Essenskarten weggenommen worden – und nur diejenigen, die bei der Erdogan-Kundgebung anwesend waren, hätten sie sich danach wieder abholen können.
Die Wut auf die Regierung, die skrupellose Unternehmer wie Gürkan Arbeiter unter „verbrecherischen“ Bedingungen – wie verschiedene Gewerkschaften gestern sagten – auspressen lässt, um selbst billig an Kohle zu kommen, ist in der ganzen Türkei enorm.
Am Mittwoch wurde an verschiedenen Universitäten des Landes demonstriert. In Ankara ging die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen protestierende Studenten vor. Mehrere hundert Demonstranten seien daran gehindert worden, vor das Energieministerium in der Hauptstadt zu ziehen, berichteten türkische Medien. Die Sicherheitskräfte hätten über Megafon auf die von der Regierung verfügte Staatstrauer für die Opfer der Katastrophe hingewiesen. Für den Abend und die kommenden Tage haben mehrere Gewerkschaften und oppositionelle Parteien zu Protestaktionen aufgerufen.
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