Meritokratie in der Nationalmannschaft: Kein Triumph der Tüchtigen mehr
Dass bei Bundestrainer Löw nicht jeder Spieler die gleiche Chance hat, ist schon manchem übel aufgestoßen. Der Erfolg gab ihm recht – bislang.
Seit der Weltmeisterschaft in Brasilien führt Jogi Löw eine sphärische Existenz. Er ist Weltmeistertrainer. Man spricht in so einem Fall von einer „lebenden Legende“. Von dieser Legende weiß man, dass er Espressi wie andere Menschen Wasser trinkt und dass er in Trainingseinheiten selbstvergessen über den Platz schreitet, als messe er mit jedem Schritt seine eigene Bedeutung aus.
Der Jogi ist zu einem Denkmal seiner selbst geworden, was seiner inneren Ruhe sicherlich enorm förderlich ist. Aber ist der Jogi auch noch ein Anführer, ein Menschenfänger und Projekttrainer? Daran hegen viele nach der 0:1-Auftaktniederlage gegen die Mexikaner Zweifel. Zu Recht. Denn die geschlossene Gesellschaft, die sich Nationalmannschaft nennt, offenbart Zeichen eines Niedergangs, wie er sich in Systemen, die extrem auf Leistung und Effizienz getrimmt sind, immer wieder vollzieht.
Im Grunde funktionierte Jogis Unternehmung wie eine Meritokratie im Kleinformat, also wie eine Herrschaftsform, in der die Amtsträger nach wie auch immer gearteten Verdiensten bestimmt werden. Er suchte die Besten und Leistungsstärksten heraus, ließ sie von den Besten betreuen, schuf eine Wohlfühlatmosphäre im Kokon der Nationalmannschaft – und musste eigentlich nur warten, bis seine hochbegabten Schützlinge reif genug sind, um sich den Titel zu schnappen. Der Triumph der Tüchtigen schien unausweichlich in einer Atmosphäre gewissenhafter Förderung und Ausbildung.
Der Meritokrat Löw schien auch ein Utopist zu sein, ermöglichte er doch die Gründung einer „Internationalmannschaft“ (2010) und die allmähliche Hispanisierung des deutschen Rumpelfußballs. Löw erwies sich in seinem Reformwillen, angestoßen von Jürgen Klinsmann, als kluger Pragmatiker und Globalist. Er nahm sich, was er brauchte, um sein Labor der Besten mit jenen Leuten zu besetzen, die sich auch außerhalb des Fußballs Meriten erworben hatten.
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Als sein Team bei der Europameisterschaft 2008 Zeichen der Erschlaffung erkennen ließ, zog er den internen Konkurrenzkampf noch einmal an. Jogi zeigte sich hellwach. Jede Position wurde doppelt und gleichwertig besetzt. Selbst die Führungsspieler sollten sich ihrer Sache nicht mehr sicher sein.
Die Gruppe schottet sich ab
Löw ahnte wohl, dass sich im Laufe der Zeit Abhängigkeiten zu seinen Spielern entwickeln würden, eine Nähe, die nicht gut ist für den Erfolg. Loyalitätskonflikte sind aber trotz großer Wachsamkeit unvermeidlich: Die Nibelungentreue zum einmal verdienten Kicker, das Festhalten am Althergebrachten oder das Wegschieben von Kritik unterhöhlen das Prinzip einer Meritokratie. Die Gruppe schottet sich mehr und mehr gegen äußere Einflusse ab, behauptet ihren Machtbereich und redet sich in einer Art stark, die nichts mehr mit der Realität zu tun hat.
Wem der Aufstieg heuer konkret verwehrt wurde, ist Leroy Sané. Hinzu kommt, dass sich Führungsspieler wie Sami Khedira oder Mats Hummels nicht mehr so sehr beweisen müssen wie früher. Das liegt schlichtweg daran, dass Löw diesen Rubikon nicht mehr überschreiten muss; der Jogi hat das Ufer der ultimativen Anerkennung längst erreicht.
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Der Erfinder des Begriffs Meritokratie, der Engländer Michael Young, schrieb vor über 50 Jahren die Satire „The Rise of Meritocracy“ („Es lebe die Ungleichheit“). Und dieses Experiment, das im Jahr 2034 spielt, geht geradezu dystopisch aus: Der Weg ins gelobte Land der Exzellenz mündet in einer Vision Orwell’schen Ausmaßes.
So weit muss es mit dem Jogi, der schlimmstenfalls seinen Posten verliert, natürlich nicht kommen. Es heißt, in den vergangenen Tagen sei viel gesprochen und intern Kritik geübt worden.
Vielleicht ist Jogis leicht angetagte Meritokraten-Truppe ja immer noch schlau genug, um die Lehren aus der Auftaktpleite zu ziehen. Sie haben es selbst in der Hand, wie man sie dereinst nennen wird: die Weisen von Watutinki. Oder die Wappler von Watutinki.
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