Literatin Poniatowska zur aktuellen Lage: „Mexiko erwacht jetzt“
Elena Poniatowska, die Grande Dame der mexikanischen Literatur, über ihr Land, das derzeit in Gewalt und Korruption versinkt.
taz: Frau Poniatowska, Sie haben ein Buch über das Massaker geschrieben, mit dem das Militär die mexikanische Studentenbewegung von 1968 beendet hat. Ist das, was jetzt in Ayotzinapa passiert, ein Déjà-vu für Sie?
Elena Poniatowska: Die Ähnlichkeit ist der Tod. Was jetzt anders ist: Ich glaube, dass Ayotzinapa der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Es hat in Mexiko in den letzten Jahren viele Blutbäder gegeben. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass nun, nach dem Verschwinden und der wahrscheinlichen Ermordung der 43 Studenten, etwas anderes folgt?
Die Öffentlichkeit ist dieses Mal anders und der Protest. Es gibt heute viel mehr soziale Beteiligung. Ich bin eine positiv denkende Person – und ich liebe mein Land. Ich glaube an die Jugend. Die jungen Leute haben prächtige Demonstrationen organisiert, die nicht aggressiv waren. Und ich glaube, das ist erst der Anfang. Mexiko erwacht jetzt. Die Menschen wollen, dass sich die Situation ändert.
Wie sehen Sie Ihre eigene Rolle als Schriftstellerin in dieser Situation?
Eine Schriftstellerin hat die Aufgabe, sich zu entrüsten. Sie muss anklagen und bekannt machen, was geschieht. Und sie muss sich auf die Seite der Opfer zu stellen.
Sie sind in Mexiko eine verehrte und auf jeden Fall die höchstdekorierte lebende Schriftstellerin. In diesem Jahr haben Sie den Cervantes-Preis bekommen, die wichtigste literarische Auszeichnung der spanischsprachigen Welt. In New York treten Sie beim spanischen und nicht beim mexikanischen Kulturinstitut auf. Wieso?
Die mexikanische Regierung würde niemals eine Person einladen, die sie kritisiert. Das spanische Institut hingegen lädt Lateinamerikaner ein und verbindet so Spanien mit Lateinamerika.
Geboren 1932 in Paris, floh sie als Kind mit Mutter und Schwester vor dem Zweiten Weltkrieg nach Mexiko, wo sie heute noch lebt. Sie begann ihr Berufsleben als Journalistin und hat zahlreiche Romane und Porträt-Bücher veröffentlich. Ihr Erfolg: 1971 erschien „La Noche de Tlatelolco“ (Die Nacht vonTlatelolco), eine Chronik des Massakers an Hunderten von Studenten in Mexiko-Stadt, mit dem die Armee die mexikanische Studentenbewegung von 1968 kurz vor Beginn der Olympischen Spiele blutig beendete. In diesem Jahr wurde die Schriftstellerin in Madrid mit dem „Premio Cervantes“ ausgezeichnet, der wichtigsten Auszeichnung für spanischsprachige Literatur.
Wie kann man ein Land nennen, in dem die Polizei Studenten gefangen nimmt, um sie zum Zwecke ihrer Ermordung an eine Bande von Verbrechern weiterzugeben?
Ein gescheitertes Land. Eines, in dem die Bürger keine Garantien haben. Es ist unerträglich und unannehmbar, dass Studenten einer Lehreruni „verschwinden“. Dass sie ermordet und verbrannt werden. Es ist sehr, sehr traurig.
In Ayotzinapa – wie bei vorausgegangenen Verbrechen – sind die meisten Opfer extrem jung. Hat die mexikanische Regierung ein Problem mit der Jugend des Landes?
Sie hat ein Problem mit Aufsässigkeit. Und wer aufsässig ist und gegen das Regime rebelliert, das sind in der Regel die Jungen. Nicht die Alten.
Was erwarten Sie jetzt von der mexikanischen Regierung?
Als Erstes muss sie überhaupt ein Bewusstsein für die Lage entwickeln. Auch in diesem Fall haben die enormen sozialen Klassenunterschiede eine Rolle gespielt. Lehramtsstudenten in Mexiko gehören zu den Ärmsten der Armen. Die einzigen Ausbildungsstätten, die ihnen offenstehen, sind die extrem schlecht ausgestatteten Escuelas Normales Rurales (Schulen für die Lehrerausbildung in ländlichen Gemeinden, d. Red.), wie die in Ayotzinapa. Nach dem Verschwinden der Lehramtsstudenten hat die Regierung extrem lange gebraucht, um überhaupt zu reagieren. Es ist mehr als ein Monat vergangen, bevor der Präsident die Eltern der Jungen empfangen hat.
Nach Angaben der mexikanischen Regierung haben drei Kriminelle den Mord an den Studenten gestanden, Leichen wurden aber nicht identifiziert. Glauben Sie das, was jetzt allmählich über die Ermittlungen veröffentlicht wird?
Die mexikanische Regierung versucht vor allem, die Sache herunterzuspielen, ihr die Bedeutung zu nehmen. Aber das Problem ist zu groß. Zu scheußlich.
Kann Präsident Enrique Peña Nieto, dessen Uniformierte ein solches Verbrechen an der eigenen Bevölkerung begangen haben, im Amt bleiben?
Unser erstes Problem ist die soziale Ungleichheit, der Abgrund, der zwischen den sozialen Klassen liegt. Wir in Mexiko müssen kämpfen, um ein anderes Land zu werden. Es gibt eine Korruption, die mit der Macht zusammenhängt. Wer nach oben kommt, betrachtet sein Amt als Quelle, um sich zu bereichern. Die großen Vermögen entstehen in Mexiko an politischen Positionen.
Mexiko hat sich in den letzten Jahrzehnten institutionell verändert. Unter anderem hat es heute ein Mehrparteiensystem.
Ja, aber alle Parteien entspringen einer einzigen Partei: der PRI, der Partei der institutionalisierten Revolution. Als ob es möglich wäre, eine Revolution zu institutionalisieren (lacht). Auch jene, die heute in der Linken sind, kommen aus der PRI.
Seit 1994 hat Mexiko einen gemeinsamen Binnenmarkt mit den USA und Kanada. Und die USA sind der Markt, wohin die Drogen gelangen, die Mexiko zerstören. Was erwarten Sie von Mexikos großem Nachbarn im Norden?
Es stimmt, dass die Drogen aus Mexiko in den USA konsumiert werden. Aber was in Mexiko passiert, ist eine innere Angelegenheit. Ich glaube nicht, dass die USA intervenieren sollten.
Es muss ja nicht unbedingt eine Intervention sein. Ich denke an die Schusswaffen, die in Mexiko töten, aber aus den USA kommen.
Der Schusswaffenhandel ist schrecklich. Wenn es nach mir ginge, gäbe es überhaupt keine Waffen in der Welt. Sie sind das große Übel der der Menschheit. Aber in Mexiko existierte die Schießwütigkeit schon in der mexikanischen Revolution. Auch damals liefen viele Leute bewaffnet herum.
Ohne Schusswaffen können Schießwütige nicht denselben Schaden anrichten.
Es ist sehr schwierig, sich ein Land ohne Waffen vorzustellen. In Lateinamerika gibt es nur ein einziges, das zumindest die Armee abgeschafft hat: Costa Rica.
Was können Menschen außerhalb von Mexiko tun?
Ich sehe das vor allem auf der individuellen Ebene. Wo immer Menschen guten Willens sind und helfen wollen, ist das nützlich. Aber ich denke, dass Mexiko jetzt zunächst Zurückweisung erleiden wird. Das Bild des Landes, das bekannt ist für seine unglaublichen Strände, ist beschädigt.
Sollten ausländische Touristen die Strände von Acapulco – die nur 200 Kilometer von Ayotzinapa entfernt sind – nun boykottieren?
Das will ich nicht sagen. Mexiko braucht die Devisen. Was mir große Sorgen macht, ist die Gleichgültigkeit in meinem Land. Selbst in Mexiko-Stadt gibt es viele, die nicht empört sind. Diese Gleichgültigkeit müssen wir aufbrechen. So etwas gibt es ja überall auf der Welt. Denken Sie an Hitler. Da gab es auch viele, denen es egal war. Die Wichtigeres zu tun hatten.
Wollen Sie die Lage in Mexiko heute tatsächlich mit Deutschland im Nationalsozialismus vergleichen?
Was mich als Schriftstellerin interessiert, ist die Gleichgültigkeit. Die Gleichgültigkeit angesichts der Armut, die ich auch hier in New York auf der Straße sehen kann. Gleichgültigkeit lässt sich nicht messen. Sie ist abhängig vom Grad individuellen Bewusstseins jeder Person. Ein Beispiel: In Paris im Jahr 1968 hat ein Minister über Daniel Cohn-Bendit gesagt, dass er nicht verstehe, was ein deutscher Jude den Studenten zu sagen habe. Da sind sie am nächsten Tag auf die Straße gegangen, haben sich untergehakt und haben gerufen: „Wir sind alle deutsche Juden.“
Heute skandieren Demonstranten weltweit: „Wir sind Ayotzinapa“ und halten Schilder mit den Namen und Bildern der verschwundenen Studenten hoch.
Trotzdem schafft es Lateinamerika kaum in die Medien. Auf der Weltkarte existieren wir nicht.
Was machen Sie selbst mit der Gleichgültigkeit in ihrem Land und außerhalb?
Ich schreibe und spreche. Bei meiner Rede auf dem Zocalo in Mexiko-Stadt im Oktober habe ich etwas aus dem Leben jedes einzelnen der verschwundenen jungen Männer erzählt. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Ich bin 82 und herzkrank.
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