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Panter Preis

Laudatio von Mely Kiyak Menschlichkeit als Kompass

Mely Kiyak würdigt Watch The Med Alarm Phone, GewinnerInnen des taz Panter LeserInnenpreises.

Aufmerksames Schweigen: Mely Kiyaks Laudatio berührte das Publikum zutiefst. Bild: Hein-Godehart Petschulat

Im Folgenden bilden wir das Manuskript der Laudatio von Mely Kiyak auf die Initiative „Watch the Med” ab, GewinnerInnen des LeserInnenpreises beim taz Panter Preis 2015. Die Laudatio wurde am Abend des 19. September 2015 im Deutschen Theater Berlin gehalten. (Anm. d. Red.)

Ertrinken, meine Damen und Herren,

ist ein leiser Vorgang. Im Gegensatz zur Panik, zum Weinen, Schreien, Um sich schlagen angesichts des drohenden Todes, ist der letzte Moment des Lebens auf dem Meer so leise, dass man außer Wellengang nichts hört. Der Mensch ertrinkt zumeist in der Waagerechten, den Kopf nach hinten geneigt.

Das Ertrinken, als Folge eines Sturzes von einem Boot, oder als Folge von mit Salzwasser voll gesogener Bekleidung in die Meerestiefe, ist der lange Kampf gegen das Untergehen. Es ist der Versuch dem Wasser zu entkommen, die Bemühung an der Wasseroberfläche zu bleiben.

Es wechseln sich ab: Auftauchen, kurz Luftholen an der Wasseroberfläche, abermaliges Untertauchen. Zunächst handelt es sich um viel Einatmen von Luft und wenig Einatmen von Wasser. Irgendwann kehrt sich das Verhältnis um. Wenig Luft, viel Wasser.

Nach einer Weile hören die Körperteile auf sich zu bewegen. In dieser Phase kommt es gelegentlich zum Ausatmen kleiner Luftmengen, aber nahezu regelhaft zum Schlucken größerer Flüssigkeitsmengen. Entweder die Lunge läuft voll. Oder der Magen. Es gibt das trockene Ertrinken. Und das feuchte Ertrinken. Bevor der Körper endgültig aufgibt, zuckt er ein letztes Mal heftig, weil der Sauerstoffmangel Krämpfe auslöst. Es folgt der Tod.

Sich langsam krümmend sinkt der Körper in die Tiefe. Es ist, als laufe der Mensch gebeugt aus der Welt. Zum vielleicht stillsten Ort, doch auf jeden Fall dem einzigen Ort auf dieser Erde an dem Menschen wirklich frei sind. Denn der internationale Meeresboden gehört laut Seerechtsübereinkommen, über das die internationale Meersbodenbehörde bewacht, niemandem. Der Boden des Meeres ist laut Gesetz unser common heritage of mankind, übersetzt: gemeinsames Erbe der Menschheit. Dort also liegen die Leichen. Sie sind unser Menschheitserbe.

Wenn wir über Seenotrettung für Flüchtende sprechen, verehrte Anwesende, sprechen wir darüber. Über die Erbärmlichkeit der Todesumstände. Über die Erbarmungslosigkeit aller Mitwisser, die Jahr für Jahr Opferzahlen zur Kenntnis nehmen.

Allein in diesem Jahr starben fast 3000 Menschen auf diese Weise im Meer. Und wir haben erst Mitte September. Alan Kurdi, der kleine kurdische Junge aus Syrien, der an die türkische Küste angeschwemmt wurde, war einer von diesen Toten.

Jeder Flüchtling, der im Meer ertrinkt, ist ein Schicksal, das uns Europäern illustriert, dass unseren Regierungen ihre Regeln, Bestimmungen und Gesetze mehr wert sind als Menschen. Was kann es wertvolleres als ein Menschenleben geben? Wem gehören die Meere und die angrenzenden Küsten? Wem gehören die Kontinente? Wem die Grenzen und wem die dazugehörigen Länder?

Und wer trägt also Verantwortung dafür, dass nicht die geballte militärische, logistische, politische und finanzielle Kraft aufgewendet wird, um jedes in Not geratene Schiff und seine schutzlosen Insassen zu schützen?

Für uns Urlauber, liebe Zuhörer, sind an den Urlaubstränden der Welt alle paar Meter Schwimmwesten, Kontrollposten und ausgebildete Retter aufgestellt, für den Fall, dass wir in Schwierigkeiten geraten.

Für die Flüchtlinge, die über den Rechtsraum Meer zu uns gelangen wollen, wartet wenn sie in Not geraten, die bittere Erkenntnis, dass ihre Rettung nicht oberste Priorität hat. Sind wir wirklich dieses Europa, sehr geehrte Damen und Herren?

Die Antwort lautet: Ja - und Nein.

Es gibt unter uns welche, die nicht willens sind Unrecht zu akzeptieren. Diese Helden sitzen heute Abend unter uns: Sie sprechen der Gerechtigkeit den höchsten Rang zu. Sie heißen Lina, die wir eben ausgezeichnet haben, sie heißen aber auch Inge und Almut, die sich für gerechte Arbeitsbedingungen einsetzen, sie heißen Beshid, die Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen nicht allein lassen, sie heißen Frank, Christina und Luminita, die für Roma da sind, in einer Zeit, in der die Diskriminierung ein ungeheuerliches Ausmaß genommen hat, sie heißen Rosi und Christina, die Psychiatriekranken einen Ort und eine Sprache geben, um die sein zu dürfen, die sie sind.

Sie alle schützen die europäische Idee von Recht und Humanität. Sie tun das in Köln und Duisburg, in Rheda-Wiedenbrück, Braunschweig und Leipzig.

Liebe Nominierte, ihnen gebührt unser Respekt und unsere ganze Unterstützung. Sie sind unsere Vorbilder. Ihre Menschlichkeit ist unser Kompass!

Und es gibt sie. Die Aktivisten.

Sie erreichen sie unter Telefonnummer:

00334 86 51 71 61.

Diese Notrufnummer wird an den Küsten verteilt. Jeder Flüchtling eines in Seenot geratenen Bootes, der diese Nummer wählt und aufgeregt in den Hörer brüllt, „wir ertrinken!“, landet in einem Netzwerk von einhundert Menschen, verteilt über mehrere Länder, die keine Ruhe geben, bis das Boot, das den Notruf sendet, gerettet wird.

Sie erzeugen so lange Druck, bis endlich etwas geschieht. Sie sind live am Telefon, wenn Wasser in die Boote läuft, wenn Menschen weinen, wenn ausgelöst durch den Schock des drohenden Ertrinkens die Wehen einer Schwangeren ausgelöst werden und sie im sinkenden Boot ein Kind gebärt.

Gleichzeitig wird Hilfe koordiniert und anschließend dokumentiert. Denn ohne Dokumentation und Öffentlichkeit kann kein Druck erzeugt werden. Das Alarmphone von Watch The Med agiert in dem Geist, Menschen zu schützen und nicht Grenzen.

Der diesjährige Panter Preis der Leserinnen und Leser der taz geht an Watch The Med. Ich gratuliere und danke Ihnen für Ihr Engagement von ganzem Herzen. 

Mely Kiyak, 19. September 2015, Deutsches Theater Berlin