Kommentar Ermittlungen gegen KZ-Täter: Das reichlich späte Recht
Die KZ-Arbeiter stehen heute im Greisenalter. Es kann es nicht darum gehen, sie auf Jahre hinter Gitter zu bringen. Die Ermittlungen sind ein Signal für Aufklärung.
J etzt, fast 70 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes, müssen endlich auch diejenigen um ihren ruhigen Lebensabend fürchten, die als kleine Rädchen im Getriebe den Massenmord an den Juden verantworteten. Die Vorermittlungen der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen richten sich gegen die Männer, die durch ihre Anwesenheit in Auschwitz den Holocaust erst möglich machten. Denn auch wer keine Mordbefehle unterschrieb, nicht an Erschießungen teilnahm oder Zyklon B in die Gaskammern schüttete, wohl aber das Vernichtungslager bewachte, trägt Schuld.
Lasse sich niemand einreden, hier schlage der Staat gnadenlos gegen bemitleidenswerte Groß- und Urgroßväter zu. Diese Männer waren freiwillig in den rassistischen Eliteverband der SS eingetreten. Sie besaßen die Möglichkeit, sich vor dem Dienst zu drücken. Keiner dieser Täter war mit dem Tode bedroht, wenn er auf einer Versetzung bestanden hätte.
Aber nein, sie blieben, backten Brot für die Kantine, hielten von Wachtürmen aus nach Flüchtenden Ausschau und reparierten die Leitungen, die den Stacheldraht an den Außengrenzen des Lagerkomplexes unter Starkstrom hielten. Sie mögen nicht selbst gemordet haben. Aber sie sorgten dafür, dass mehr als eine Million Menschen ungestört ermordet werden konnten.
ist Leiter der Ressorts taz1.
Die Ermittlungen sind eine Genugtuung für die wenigen Überlebenden und ihre Nachfahren. Und doch hinterlassen sie einen schalen Beigeschmack. Denn erst jetzt, wo die meisten Täter längst friedlich in ihren Betten verstorben sind, besinnt sich die deutsche Justiz ihrer Versäumnisse. Zehntausende Deutsche waren am Holocaust indirekt beteiligt.
Die schützende Demokratie
Sie sperrten als deutsche Polizisten die Gettos ab. Sie fuhren als Lokomotivführer ihre menschliche Fracht in den Tod. Alle diese Männer – und wenigen Frauen – konnten sicher sein, dass ihnen in der Demokratie nichts geschehen würde. Heute, da diese mutmaßlichen Täter von Auschwitz im Greisenalter stehen, kann es nicht mehr in erster Linie darum gehen, sie auf Jahre hinter Gitter zu bringen.
Von ihnen droht keine Wiederholungsgefahr. Die Ermittlungen sind vielmehr ein Signal dafür, dass der Rechtsstaat NS-Verbrechen nicht länger auf sich beruhen lässt, sondern Aufklärung schafft über Prozesse, die längst zur Geschichte geworden sind. Dazu aber zählt, die Verantwortlichen mit ihrer Tat zu konfrontieren – auch 70 Jahre danach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau