Jazz-Shootingstar Kamasi Washington: Nichts fürs Candle-Light-Dinner
Der Saxofonist brilliert mit seinem traumhaften Debütalbum „The Epic“. Eine Begegnung mit Kamasi Washington in Los Angeles.
Überall blubbert es durch Strohhalme. Junge Mütter mit roten, grünen, gelben Smoothies flanieren über die Lake Avenue von Pasadena. Es ist ziemlich heiß, selbst für einen Vorort von Los Angeles. Als Kamasi Washington um die Mittagszeit das „Lemonade“ betritt – ein in Zitrusfarben eingerichtetes, unprätentiöses Restaurant –, wirkt es, als sei er aus einer anderen Zeit, von einem anderen Stern angereist.
Er trägt ein langes schwarzes Gewand mit Ornamentverzierungen und eine Rastamütze. Doch Washington kommt vom Orthopäden, nicht vom Mars. Seit er einer Nachbarin beim Tragen geholfen habe, tue ihm der Rücken weh.
Das abgeklärte Lächeln in Washingtons Gesicht dürfte selbst Fremde erahnen lassen, dass sich dahinter ein ziemlich feiner Verstand verbirgt. Der 32-Jährige ist Saxofonist und Jazzkomponist. Er hat soeben ein dreieinhalbstündiges Meisterwerk veröffentlicht, sein Debütalbum. „The Epic“ ist lässig, tiefsinnig, erhaben, vor allem aber ist es ziemlich überraschend.
Denn eigentlich spielt Washington bei Livetouren mit HipHop-Größen wie Lauryn Hill oder Snoop Dogg, er wird für Platten wie Kendrick Lamars „To Pimp a Butterfly“ gebucht. Und er veröffentlicht sein Album über Brainfeeder, das Label des experimentellen Post-HipHop-Masterminds Flying Lotus, der Washington auf seinen Alben über tropfende und dröhnende Soundkulissen improvisieren ließ.
Kamasi Washington: „The Epic“ (Brainfeeder/Rough Trade)
Und nun das: ein Debütalbum, das sich dem puristischen Jazz verschreibt. Man möchte fast „traditionell“ dazu sagen, bestünde Washington nicht darauf, dass sein Sound alles andere als traditionell sei. „Ich bin mit N.W.A.-Platten aufgewachsen, ich liebe die Sachen von Flying Lotus. Ich habe das alles absorbiert, es steckt in mir“, sagt er. „Aber N.W.A. klang für mich schon immer wie Art Blakey, und mein Album hört sich für mich nach der modernsten Form des Jazz an.“
Hintergrundmusik? Nein!
Sich mit dem Shootingstar des Westcoast-Jazz in einem Restaurant über Musik zu unterhalten, ist schon eine groteske Angelegenheit. Denn während nahezu jedes andere moderne Genre mit Ausgehen und Tanzen konnotiert ist, ist der Umgang mit Jazz stets ein unsicherer. Nicht selten führt dies dazu, dass er in Lokale verbannt wird, wo gegessen und gequatscht wird, als Hintergrundmusik für das mondäne Candle-Light-Dinner.
„Aber genau das wollte Jazz niemals sein“, sagt Kamasi Washington. Vielmehr sei Jazz eines der ersten intellektuellen Ausdrucksmittel der Afroamerikaner gewesen. Schließlich hätten noch Zeitzeugen der Sklaverei gelebt, als sich Bebop, der Ursprung des modernen Jazz, formierte und sein Publikum zum Hinsetzen und Nachdenken anregte.
Das dreiteilige Werk „The Epic“ ist in gewisser Weise eine Hommage an diesen Ursprungsgedanken, der das Ästhetische mit dem Politischen vereinen wollte. Musikalische Referenzen an Claude Debussy paaren sich etwa mit Ideen der Bürgerrechtsbewegung.
Gospelsänger verschmelzen mit Streichern zu einem Chor, singen Ossie Davis’ Grabrede für Malcolm X über rotierende Percussionsets. Und das leitmotivische „Re Run“, das sich später zu „Re Run Home“ weiterentwickelt, huldigt streckenweise den äthiopischen Klangfarben eines Mulatu Astatke.
Die Seele seiner Musik, sagt Washington jedoch, komme aus den Vierteln, in denen er aufgewachsen sei. „Es war cool da, meine Nachbarn schenkten mir Platten, und selbst die Gangster ließen mich in Ruhe, sobald sie wussten, dass ich mich auf die Musik konzentrierte.“
Bloods vs. Crips
South Central und Inglewood heißen die Bezirke, von denen Washington spricht. Man kennt sie als Brutstätten der Bandenkriminalität von L.A., als Stützpunkte der rivalisierenden Bloods und Crips. „Ich hatte auf beiden Seiten Freunde, die in Gangs involviert waren. Das ging schon, solange ich so tat, als hätte ich ähnliche Ansichten wie sie. Damals war das völlig normal.“
Doch mit Abstand erschienen Washington die Zustände bald nicht mehr als so normal. Er gehörte zu den wenigen Schülern, die aufgrund eines neuen Bildungsprogramms eine renommierte Highschool außerhalb ihres Bezirks besuchen durften.
„Die neue Schule war für mich wie ein Kulturschock. Ich hatte niemals Leute getroffen, die so sprachen“, erzählt Washington. Er sei gerne zur Schule gegangen, doch gleichzeitig habe sich sein Blick auf die Gesellschaft radikal verändert.
„Das Programm schien bloß dazu da zu sein, alle hellen Köpfe aus der Community rauszuholen – was ich sehr traurig fand.“ Washington bemühte sich, Teil beider Welten zu sein. Seinen Freunden im Viertel erzählte er vom Geschichtsunterricht. In der Schule schrieb er Aufsätze darüber, wie Armut schwarze Jugendliche in die Kriminalität treibt.
Auch Washingtons aktuelle Band besteht ausschließlich aus Musikern, mit denen er gemeinsam aufgewachsen ist. Bassist Stephen Bruner etwa, der unter dem Namen Thundercat bereits viel beachtete Instrumentalalben wie „Apocalypse“ (ebenfalls bei Brainfeeder) veröffentlicht hat, zupft und schwingt mit seinem Solo auf dem Song „The Magnificent 7“ die Hörer in wohlige Trance.
Zwei Terabyte Material
Die Rohversion des Albums entstand während einer vierwöchigen Jamsession im Dezember 2011. Alle zehn Musiker der Kernbesetzung blockierten den Monat und gingen von morgens bis abends ins Studio. Washington schrieb ein paar Melodien vor, ließ seine Band dazu improvisieren und schrieb nachträglich die Streichersets. „Am Ende hatte ich zwei Terabyte Material zusammen“, sagt er. „Es dauerte ewig, bis ich das ganze auf 17 Songs verschmälert hatte.“
In jener Zeit, als Washington sich diese Aufnahmen „vielleicht etwas zu intensiv“ anhörte, fing er an, sehr häufig zu träumen, und zwar märchenhafte Geschichten, die mit der Musik zusammenhingen. Das erste Stück, „Change of the Guard“, etwa – ein mit John-Coltrane-Zitaten geschmücktes Free-Jazz-Pamphlet – geht auf Washingtons Traum von dem Wächter eines Tors zurück.
Ständig wurde der Wächter von jungen Kämpfern herausgefordert, schaffte es aber, sie alle zu schlagen – ohne je zu wissen, was sich hinter dem Tor, für das er zu sterben bereit war, eigentlich verbarg.
Andere Stücke nehmen direkten Bezug auf Washingtons Kindheitserinnerungen, etwa das leichtfüßige „Leroy & Lanisha“, das der Saxofonist und Charlie-Brown-Fan in Anlehnung an die Peanuts-Figuren Linus und Lucy verfasste („eine Inglewood-Version“).
Oder das wunderbar melodramatische „Henrietta Our Hero“. Diesen Song schrieb Washington für seine Großmutter, die trotz psychischer Krankheit und schwerer Folgen einer Elektroschocktherapie drei Kinder allein großzog, ihnen bei der Finanzierung ihrer ersten Häuser half und sich später noch um die Enkel kümmerte. „Sie war keine 1,50 Meter groß, nervlich am Ende, aber sie war eine starke Frau“, sagt Washington. „Henrietta ist meine größte Heldin, weil sie aus dem Nichts heraus so viel geleistet hat.“
Freiheit der Westcoast
Der Musiker schlürft einen letzten Schluck Minzlimonade und fragt sich, ob es in Pasadena erlaubt ist, auf der Straße zu rauchen. In manchen Bezirken von L.A. ist es nämlich streng untersagt. „Was die Musik angeht, haben wir in L.A. aber alle Freiheiten“, sagt er.
Klar, man denke bei Jazz immer gleich an New York, doch eben deshalb herrsche dort auch ein unglaublicher Druck. Washington mimt den Snob: „Nun zeig mir, dass du wie Coltrane spielen kannst! Und nun zeig mir, dass du wie Davis spielen kannst!“ Bei so vielen Anforderungen, die die Szene an junge Musiker stelle, bleibe nicht viel Raum für Eigenes.
„Deshalb galt der Westcoast-Jazz schon immer als freier. Natürlich leiden die alten Hasen hier darunter, dass sie nie die verdiente Anerkennung bekamen. Aber letztlich entwickelten sie einen eigenen Ausdruck. Und das ist es, worum es im Jazz geht, Ausdruck.“
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