Jahrestag der Stuttgart 21-Proteste: Zeit der Kastanien
Die Verantwortlichen schweigen, die Gerichte verurteilen Bahnhofsgegner, von den Bäumen fallen Pflastersteine. Ein Jahr Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten.
STUTTGART taz | Ursel Beck kickt gegen eine Kastanie. Es ist ein sonniger Herbsttag. Im Stuttgarter Schlossgarten verfärben sich langsam die Blätter der großen Eichen- und Kastanienbäume. Die kleine Frau trägt ihre braunen Haare kurz geschnitten, eine sportliche schwarze Jacke und eine große Sonnenbrille, die ihre Augen verdeckt. An ihren Ohren hängen große silberne Ringe, an die Jacke hat sie sich den obligatorischen "Oben bleiben"-Button gesteckt.
Beck schaut zu Boden. "Auch die Natur erinnert jetzt wieder an den 30. 9.", sagt sie. "Jetzt fallen wieder Pflastersteine von den Bäumen." Und noch mal kickt Ursel Beck eine Kastanie weg.
Dieser Herbst holt die Erinnerungen wieder hoch und Beck ist sicher, dass es ihr in jedem Herbst so gehen wird. Bei Kastanien und rotgelben Blättern denkt Ursel Beck an Schlagstöcke, Wasserwerfer und Tränengas. "Man sieht die Kastanien und weiß, es ist jetzt wieder die Zeit." Es ist die Erinnerung an die Zeit, in der vor einem Jahr Hundertschaften der Polizei Demonstranten gewaltsam zurückdrängten, um Absperrgitter aufzustellen, wo später Bäume gefällt werden sollten wegen des Bahnprojekts Stuttgart 21. Zehntausende wollten das im Park verhindern, die Staatsmacht aber wollte die Abholzung mit allen Mitteln erzwingen.
Der Protest: Am Freitagabend erinnert das Aktionsbündnis an den Polizeieinsatz vor einem Jahr. Auf dem Schlossplatz gibt es ab 17 Uhr eine politisch-musikalische Kundgebung. Außerdem berichten Betroffene von ihren Erfahrungen. Die Parkschützer planen ab 23 Uhr einen Schweigemarsch vom Schlossgarten zum Neuen Schloss.
Die Volksabstimmung: Die grün-rote Landesregierung hofft, dass das Referendum den S-21-Konflikt befriedet. Den Weg dahin hat der Landtag am Mittwoch geebnet. Am 27. November stimmen die Bürger darüber ab, ob sich das Land finanziell am Bahnhofsbau beteiligen soll. (nam)
Bitterer Herbst
Wer wissen will, wie es um die Versöhnung in Stuttgart steht, der muss sich mit Menschen wie Beck unterhalten, Menschen, die bis heute nicht begreifen können, was am 30. September 2010 in ihrer Stadt geschah und deren Leben sich durch diesen Tag so sehr verändert hat.
Ursel Beck hatte an jenem Vormittag die Schülerdemo begleitet, die im Schlossgarten enden sollte. Ihr 14-jähriger Sohn war auch dabei. Er kam mit blauen Flecken nach Hause. Und nicht nur das. "Ich glaube, man kann bei einigen von einer Traumatisierung sprechen." Ihr selbst gehe es noch ein Jahr nach dem "schwarzen Donnerstag" so. "Wenn ich im Urlaub einen Bagger sehe, empfinde ich das als Bedrohung", erzählt sie. Von einer Wiedergutmachung könne heute keine Rede sein.
Statt eine Entschuldigung auszusprechen, beharrte die alte baden-württembergische Landesregierung darauf, dass die Gewalt im Schlossgarten von Demonstranten ausgegangen sei. CDU-Innenminister Heribert Rech behauptete damals gar, es seien Pflastersteine geworfen worden. In Wahrheit schossen Kastanien, vom Strahl der Wasserwerfer von den Ästen gerissen, durch die Luft.
Einer der damals besonders Betroffenen folgt heute einem Blindenstock. Dietrich Wagner ist 67 Jahre alt. Er hat sich an die neue, die schattenhafte Realität, die ihn umgibt, gewöhnen müssen. An jenem Donnerstag wurden die Augäpfel des Mannes von einem Wasserwerfer getroffen. Sein Bild, wie er, von zwei jungen Männern gestützt, aus dem Schlossgarten geführt wird, ging durch die Presse.
Zeichen der Empörung
Auf dem linken Auge sieht er fast nichts mehr, auf dem rechten hat er noch eine Sehleistung von acht Prozent. Durch die dicken Gläser wirken seine dunklen Augen riesig, eines etwas größer als das andere. Blindenbinde, Blindenstock und Blindenbutton an der Mütze - die Zeichen wirken wie eine Empörung, als sollten sie sagen: Seht her.
Am Donnerstagmittag gibt Wagner zusammen mit anderen Opfern und Vertretern der Parkschützer im Schlossgarten eine Pressekonferenz. Der Tisch vor ihnen ist mit Kastanien dekoriert, davor ein großes Plakat: "Wir schützen den Schlossgarten". Wagner zündet sich einen Zigarillo an. Immer wieder senkt er seinen Kopf und kratzt sich an der Stirn. Als er an der Reihe ist und drei Minuten Redezeit erhält, fängt er ruhig an zu reden, seine Worte aber sind hart.
Der 30. September sei eines der schlimmsten Verbrechen des deutschen Staates seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Polizei habe "vorsätzlich maximale Gewalt gegen renitente Bürger angestrebt". Wagner spricht von "Mächten des Staates", von Korruption, Lügen und einer Kriminalisierung der Demonstranten. Das Einzige, was ihn freue, ist, "dass diese Mächte sich furchtbar die Finger verbrannt haben". Er meint die Abwahl der CDU.
Als Wagners Zeit vorbei ist und er vom Pressesprecher unterbrochen wird, legt der Rentner einen Finger an den Mund. "Ich habe die Hälfte gesagt", nuschelt er ins Mikrofon.
Kollektives Schweigen
Die Verantwortlichen, die Wagner angeklagt hat, reden bis heute nicht. Siegfried Stumpf, der frühere Polizeipräsident von Stuttgart, der die Befehlsgewalt hatte, als Wagner sein Augenlicht verlor, hat sich zurückgezogen. Und die Vertreter der abgewählten Regierung wollen auch nicht reden. Heribert Rech etwa. Warum will er nicht erzählen, was er erlebt hat, als er am Krankenbett von Dietrich Wagner stand?
Auch das ist fast ein Jahr her. Viele wissen nicht, dass sich der Innenminister nach dem Wasserwerfereinsatz zu Wagner ins Krankenhaus getraut hat, immerhin. Doch Wagner, traumatisiert, hatte nur Hohn für ihn parat und beschimpfte ihn. Rech wolle darüber nicht reden, hieß es ein halbes Jahr nach dem Besuch aus seinem Büro. Ein weiteres halbes Jahr später kommt auf eine Anfrage gar keine Reaktion mehr.
Durch die Landtagswahl im März sind andere Politiker an die Macht gekommen, doch der Konflikt um den Bahnhof ist nach wie vor ungelöst. Zumindest das ist nun geklärt: Am 27. November wird es eine Volksabstimmung über den Bahnhofsneubau geben. Das Trauma aber, das der "schwarze Donnerstag" bei vielen Stuttgartern hinterlassen hat, ist geblieben. Die Nachfolger des Stuttgarter Polizeipräsidenten Stumpf und des Innenministers Rech haben es geerbt.
In Stumpfs ehemaligem Büro sitzt heute Thomas Züfle. Von hier aus hat er einen herrlichen Blick auf die im Talkessel liegende Stuttgarter Innenstadt. Nur den Bahnhof sieht er nicht. "Gott sei Dank", sagt er lächelnd. Züfle wirkt ruhig. Als "besonnen" haben ihn Weggefährten und Politiker zu seinem Amtsantritt im Juni beschrieben.
Neue Herausforderungen
Beim Gespräch über den 30. September überlegt er sich die Worte sehr genau. Der Mann mit dem Schnäuzer sitzt an einem runden Tisch und spielt mit seiner Lesebrille. Züfle benutzt immer wieder die Vokabel "differenzieren". Er spricht lieber allgemein vom Konflikt um Stuttgart 21.
Er selbst arbeitete im vergangenen Jahr noch in Tübingen, von den Ausschreitungen im Schlossgarten erfuhr er durch die Medien. Am liebsten würde er am Jahrestag nach vorn blicken. "Ich sehe das weniger unter der Überschrift ,symbolträchtiges Datum' als unter ,neue Herausforderungen', die wir mit dem neuerlichen 30. 9. haben." "Neuerlich" betont er.
Doch der Polizeipräsident kann nicht abstreiten, dass die Ereignisse Auswirkungen haben. "Der 30. 9. strahlt durchaus jeden Tag auf unsere Arbeit aus." Damit meint er das neue Konzept, das er mit der Stuttgarter Polizei verfolgt: die Verstärkung der Anti-Konflikt-Teams, eine bessere Kommunikation und mehr Transparenz vor Einsätzen. Dabei bewegt er sich stets in einem Spannungsfeld. "Wir fahren eine strikte Strategie der Deeskalation, die manchen schon zu weit geht."
Züfle sagt, er habe keine Angst vor erneuten Ausschreitungen. Doch stets begleite ihn der feste Wille, "diese hässlichen Bilder nie wieder zu haben". Das ist etwas, wozu er beitragen kann. Die Erwartungen an die damals Verantwortlichen kann er nicht nachträglich erfüllen. "Wenn ich einen Fehler mache, dann stehe ich dazu. Aber ich kann das schlecht für andere machen." Wer welchen Fehler am 30. 9. gemacht hat, möchte er schon gar nicht bewerten.
Prozesse im Wochentakt
Wöchentlich finden in Stuttgarts Gerichten Prozesse statt, die sich um Auseinandersetzungen rund um den Bahnhofsbau drehen und um den "schwarzen Donnerstag". Noch immer sind die Zuschauerbänke voll von erbosten BürgerInnen, die ihrem Unmut freien Lauf lassen. 320 Verfahren zog der 30. September nach sich. Verurteilt wurden fast nur Demonstranten.
Die Staatsanwaltschaft begründet das damit, dass die Verfahren gegen Polizisten oft komplexer seien. Da gebe es nicht nur den Vorwurf der Nötigung oder der Beleidigung, stattdessen beträfen viele Verfahren etwa den Wasserwerfereinsatz. "Das ist nicht so leicht aufzuarbeiten", sagte eine Sprecherin gegenüber der taz.
Ursel Beck steht an einem Laternenmast mit halb abgekratzten S-21-Aufklebern. Über die gerichtliche Aufarbeitung kann Beck nur den Kopf schütteln. "Was auffällt, ist, dass nix passiert ist seit damals", sagt sie. "Und das schmerzt eigentlich noch mehr. Für manche war der Umgang mit dem Tag noch schlimmer als der Tag selbst."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen