Festnahme in Kreuzberg: Neue Perspektive auf Polizeigewalt
Die taz veröffentlicht ein 2. Video von der Festnahme eines 22-Jährigen in Berlin. Ist solche Polizeigewalt gerechtfertigt?
Über eine Million Mal wurde ein ein Video von der Festnahme eines 22-Jährigen am Samstag in Kreuzberg bereits aufgerufen. Die taz veröffentlicht jetzt ein zweites Video (ganz unten in diesem Artikel), das ein anderer zufällig vorbeikommender Zeuge gemacht hat. Der Zeitpunkt, zu dem dieses neue Video beginnt, entspricht dem Zeitpunkt, zu dem das andere Video bereits 1 Minute und 4 Sekunden läuft. Während bei dem anderen Video nach 2 Minuten 13 Sekunden ein Schnitt kommt, läuft dieses Video weiter.
In der taz ist umstritten, ob der Polizeieinsatz in dieser Härte gerechtfertigt ist. Ein Pro & Contra.
Pro: Die Polizei geht richtig vor
Wer von der Polizei angehalten wird, sollte stehen bleiben. Das ist die einfache Regel, die man jedem ans Herz legen muss. Am Samstag hat ein 22-Jähriger am Görlitzer Park in Kreuzberg dagegen versucht, zurückzuweichen und weiterzugehen. Wer dann von einem Polizisten an der Schulter festgehalten wird, sollte spätestens jetzt stehen bleiben. Der 22-Jährige hat versucht, sich loszureißen. Das ist, man muss es ganz deutlich sagen, keine gute Idee. Drei Polizisten hielten ihn fest; der junge Mann versuchte, sie von sich wegzuschubsen. Die Polizisten brachten ihn zu Boden, wo er sich weiter mit Händen und Füßen wehrte. Auch noch nach Minuten versuchte er weiter, loszukommen.
Das Video des Vorfalls macht Furore, weil es so unverhältnismäßig erscheint. Viele fragen: Welche Straftat hat der Mann denn begangen, die es rechtfertigt, auf ihm zu knien und ihm in die Rippen zu boxen? Es ist die falsche Frage. Selbst ein Mörder sollte nicht auf eine solche Art festgenommen werden.
Außer, er will abhauen. Genau das hat der Mann hier versucht. Und genau das darf die Polizei niemandem durchgehen lassen. Es ist daher gut und richtig, dass die Beamten alles machen, was notwendig ist, um eine Flucht zu verhindern. Die körperliche Härte der Polizei ist eine Reaktion auf die nicht enden wollenden Versuche des Mannes, sich loszureißen. Wenn jeder der Polizei einfach dadurch entkommen könnte, dass er sich nur stark genug wehrt, könnte man die Polizei abschaffen.
Natürlich gibt es auch ungerechtfertigte Polizeimaßnahmen. Es kann aber nicht richtig sein, dann in eine körperliche Auseinandersetzung zu gehen. Es bleibt nicht anderes übrig, als die Polizeimaßnahmen erst einmal zu ertragen - und höchstens juristisch zurückschlagen. SEBASTIAN HEISER
Contra: Hier herrscht ein extremes Machtgefälle
Mehr als eine Million Mal wurde das Video auf Youtube bisher geklickt, das minutenlang zeigt, wie ein Mann, der sich wehrt, von Polizisten auf den Boden geworfen und geschlagen wird. Eine Frau schreit und weint, die Lage scheint außer Kontrolle zu geraten.
Das Statement der Polizei liest sich angesichts der recht brutalen Szenen wie Hohn: Die Beamten seien bei ihrer Arbeit „hartnäckig gestört“ worden. Schläge seien „üblich, damit der andere sich lockert“. Der Mann sei schon einmal weggeführt worden, und er sei derjenige gewesen, der erneut auf die Beamten „losgegangen“ sei.
Letztlich ist das, worum es hier geht, der Umgang mit einem extremen Machtgefälle. Die eine Seite ist ausgestattet mit gepanzerter Körperlichkeit, Überlegenheit in Sachen Ausrüstung (Schlagstöcke, Reizgas) und der Legitimation, Gewalt anzuwenden. Die andere, wehrlose Seite findet sich in einer schockierenden Extremsituation wieder, die offensichtlich Panik auslöst und lange nachwirken wird.
Genau deshalb hätten die Beamten die Situation anders lösen können und müssen. Polizisten, sollte man meinen, sind geschult in dem, was sie tun, und sollten sich des Machtgefälles bewusst sein - auch und gerade, wenn ihnen kein vermummter Autonomer, sondern ein Mann in Sandalen und mit roter Clownsnase gegenübersteht. Die Polizei rühmt sich gern ihrer "deeskalierenden" Strategien. Deeskalation sieht allerdings anders aus. Und eine angemessene Reaktion auf Protest ebenfalls..
Ein Staat muss sich daran messen lassen, wie er seinen Bürgern gegenübertritt. Er hat ein Gewaltmonopol - aber dem muss er sich in seinen Handlungen auch würdig erweisen. PATRICIA HECHT
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