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Nominierte 2015

Durchblick e. V. Leipzig Liebe statt Pillen

Bei dem Verein finden Menschen mit Psychiatrieerfahrungen Gemeinschaft, Hilfe und Beratung.

Therapiefreie Zone: Auf dem Vereinsgelände mit seinen vielfältigen Angeboten ist Selbstbestimmung das oberste Gebot. Bild: Anja Weber

Leipzig, ein großes, gelbes Haus, gelegen an einer ruhigen Seitenstraße unweit des Stadtzentrums. Hinterm Haus schließt sich ein weitläufiger Garten an, der vom Leipziger Elstermühlgraben begrenzt wird. Dies ist das Refugium von Durchblick e. V. Der Verein unterstützt in Leipzig Menschen, die Psychiatrieerfahrungen gemacht haben, und hilft ihnen mit Beratungs- und Betreuungsangeboten.

Im Malzimmer des Hauses hat Vereinsmitbegründerin Rosi Haase eine Gesprächsgruppe rund um den großen, farbbeklecksten Tisch versammelt. Sie wollen über die Arbeit von Durchblick e. V. sprechen und über angstlösende Medikamente.

Sie sagt: „In einer Krise braucht eigentlich jeder Mensch bedingungslose Liebe, Zeit und Geduld.“ Doch was Menschen in der Psychiatrie am meisten vermissen, ist genau das. Ärzte, Schwestern und Therapeuten hätten überhaupt keine Zeit für sie, sagt die 64-Jährige, die Durchblick e. V. in der Wendezeit vor gut zwei Jahrzehnten mit aufbaute. Heute ist sie 24 Stunden für die Menschen, die kommen, da – und erreichbar.

Kein Zwang, keine Stigmatisierung

Hier, in der „therapiefreien Zone“ wie sie betont, können sich Psychiatrieerfahrene, so bezeichnen sich die Leute selbst, täglich beraten lassen, sich mit anderen austauschen oder einfach Zeit verbringen. „Das ist ein geschützter Rahmen, wo man sagen kann: Ja, ich bin psychisch krank.“

Geschäftsführerin Christina Stoppa, die seit 1991 dabei ist, ergänzt, dass sie die Menschen nie ausfragen, sich die meisten jedoch schnell öffnen, weil sie merken, so sagt sie, hier wird nicht stigmatisiert. Menschen aufzufangen und ihnen neue Perspektiven zu eröffnen, ein Netzwerk mit Professionellen auszubauen, darum geht es dem Verein.

In Leipzig ist der Durchblick e. V. bekannt, seit er sich 1990 gründete. Schon in den achtziger Jahren trafen sich einige der späteren Gründungsmitglieder, obwohl Selbsthilfegruppen in der DDR nicht gern gesehen waren. Sie fertigten Kunstvolles, sprachen über ihre Erlebnisse, wenn sie in einer Krise steckten. Heute ist im Vorstand des Vereins, der etwa 90 Mitglieder hat, die Mehrheit selbst psychiatrieerfahren.

Außer Rand und Band zu Gesprächen aufgelegt

Menschen in der Psychiatrie haben wenige Rechte. Deshalb setzt sich Durchblick dort für sie ein, wo sonst wenig Mitsprache von außen möglich ist. PatientenfürsprecherInnen vermitteln, wenn es Beschwerden über Ärzt*nnen oder Pfleger*nnen gibt.

Geschäftsführerin Christina Stoppa zählt weitere Angebote auf: Eine Sozial- und Rechtsberatung gibt es, eine Literaturgruppe, auch essen kann man hier täglich. Einmal im Monat erscheint eine Vereinszeitung. Für Menschen, die eine Auszeit von ihrem bisherigen Leben brauchen, bietet der Verein ein Übergangswohnen an. Denjenigen, die Hilfe im Alltag benötigen, hilft betreutes Wohnen. Und im Psychoseseminar kommen Psychiatrieerfahrene, Angehörige und Professionelle zusammen.

Spenden, Projektmittel, Gelder von der Stadt

„Psychiater und Ärzte staunen hier oft, dass ihre ehemals völlig außer Rand und Band geratenen Verrückten sehr gut über das sprechen können, was sie empfunden haben“, erzählt Rosi Haase. Der Begriff „verrückt“ sei nicht immer negativ zu verstehen, erklärt sie. „Verrücktheit ist bei mir positiv. Weil ich die Normalität und in welche Zwänge wir uns begeben verrückt finde. Das muss geradegerückt werden.“

Die Wände im Haus von Durchblick e. V. hängen voll mit Porträts und abstrakten Bildern der Kunstgruppe. Hier kreativ sein zu können war den Mitgliedern von Anfang an wichtig. Auch in Galerien und öffentlichen Einrichtungen werden die Werke von hier ausgestellt. Die Angebote finanziert der Verein mit Geldern von der Stadt, aus den Betreuungsleistungen der Menschen, die hierherkommen, durch Spenden und Projektmittel.

Im selben Gebäude befindet sich seit 2001 auch das Sächsische Psychiatriemuseum, in dem die Geschichte der Psychiatrien in Sachsen dokumentiert wird. Für Christine Stoppa ist das eine ideale Kombination: „Durch das Museum kommen auch andere Leute her und verlieren ihre Berührungsängste vor Menschen, die in der Psychiatrie waren.“

Neben den Hilfsangeboten geht es den AktivistInnen von Durchblick e. V. vor allem um Kritik. An der Psychiatrie als Institution und an Zwangseinweisungen. „Es ist immer eine Notlösung, in die Psychiatrie zu gehen, und es ist immer besser, zu gucken, was es ansonsten für Möglichkeiten gibt“, plädiert Rosi Haase.

Medikamente ja oder nein?

Genauso kritisieren die Mitglieder die gesellschaftlichen Umstände, die Leute erkranken lassen. Und sie fordern einen anderen Umgang mit Menschen, die psychische Probleme haben. Dazu gehört, entscheiden zu können, ob man Medikamente nimmt oder nicht. Unter den BesucherInnen des Vereins gibt es dazu einen regen Austausch von Erfahrungen. Soll man Medikamente nutzen, soll man sie absetzen oder ganz andere Wege gehen? „In unserer bunten Mischung von Tablettenbefürwortern und Tablettengegnern ist das oberste Ziel die Selbstbestimmung. Dass jeder das so halten kann, wie er will“, erklärt Rosi Haase.

Am großen Tisch im Malzimmer erzählen einige gerade von Orten und ÄrztInnen, die ihnen keine Entscheidungen ließen. Thomas Bolte, Vereinsvorstand und Leiter der Steinmetzwerkstatt, wirft ein, dass Medikamente auch hilfreich sein können. Eine Frau in der Gruppe widerspricht ihm. Ihr Leben habe sich durch Psychopharmaka stark verändert.

„Die Ökonomisierung in der Gesundheitsindustrie ist sowieso das Schädlichste für die Seele, das man sich denken kann“, ergänzt Rosi Haase. „Die einen hier sagen, dass Medikamente ihnen helfen, damit ihr Leben in normalen Bahnen verläuft. Andere sagen, ich werde dadurch gedämpft und kann nicht so sein, wie ich will. Ich möchte so akzeptiert werden, wie ich bin, und erwarte von der Gesellschaft, dass sie mit mir umgehen lernt. Das ist hier beides möglich auszusprechen“, fasst Christina Stoppa zusammen.

Ob Angestellter oder Gast ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen

Hinter dem Wunsch nach mehr Selbstbestimmung für Psychiatrieerfahrene und einem anderen Umgang mit Pharmazeutika steht eine Gesellschaftskritik, die viele hier teilen: „Es bräuchte keine psychischen Krankheiten zu geben, wenn die Gesellschaft, was natürlich eine Utopie ist, so organisiert wäre, dass sie liebevoll wäre“, meint Rosi Haase.

Im weitläufigen Garten sitzen derweil Grüppchen von Leuten, unterhalten sich und trinken Kaffee. Wer von ihnen bereits in psychologischer Behandlung war, ist nicht auszumachen. „Man kann bei uns nicht auf den ersten Blick sehen, wer Betroffener ist, wer Angestellter und wer Gast“, sagt Christina Stoppa. Sie schätzt es, dass hier „unterschiedliche Meinungen, unterschiedliche Befindlichkeiten irgendwie zusammen funktionieren.“

Etwa 40 bis 50 Menschen kommen täglich her, aus allen Altersgruppen, erzählt die Geschäftsführerin. Ein Blick über die Gruppen zeigt: Ob junge Erwachsene oder SeniorInnen, hier sind alle vertreten. Im Malraum sagt Christine Stumpe, die mit am Maltisch sitzt, gerade: „Wer denkt, schläft nicht.“ Rosi Haase lacht: „Mir geht’s heute so scheiße, aber kaum bin ich eine Stunde im Durchblick, muss ich schon wieder lachen.“

MARION BERGERMANN, Jahrgang 1988, lebt und studiert in Berlin und war 2015 taz.lab Redakteurin.