Die Formen des Opferismus: Stellt euch nicht so an!
Warum regen wir uns dauernd über Gedöns auf – über N-Wörter oder enthemmte Männer? Politisch sind das doch alles Nebenschauplätze.
Ich weiß, dass dieser Text viele ärgern wird. Weil sie sich nach Lektüre beleidigt, entwertet, gekränkt und verletzt fühlen. Solche – allerdings erwartbaren – Reaktionen zu bewirken liegt nicht in meiner Absicht.
Mir geht es nur darum: Nicht nur in diesem Land (sondern auch im politisch korrekten Amerika) hängen sich jene Kräfte, die sich für politisch fortschrittlich halten, besonders innig an Fragen auf, die Diskurswolken in der öffentlichen Arena gebären, aber politisch nichts zur Folge haben. Mehr noch: Die tatsächlich wichtigen Fragen, um die es politisch gehen muss (und nicht nur: sollte), werden irgendwie zur Blässe gebracht.
Konkret: Mag sein, dass die Diskussion um schlimme Worte, ja die Umschreibung von literarischen Werken von Otfried Preußler oder Astrid Lindgren, wichtig ist. Okay, aber: Weshalb droht Menschen, die nicht von angeblich oder ernsthaft schlimmen Wörtern lassen wollen, der soziale Tod? Ist es böse, wenn einer das N-Wort sagt? Oder wenn einer von Behinderten und nicht von mobil Eingeschränkten spricht – kann das Anlass für Hass sein?
Ist es schon rassistisch, von Türken zu sprechen, wenn sie doch Deutsche längst sind? Oder ist gerade dies das Sprachverbrechen, nämlich Menschen das Türkische abzusprechen, weil sie ins deutsche Wir einverleibt werden?
Gedöns ist Umwelt, ist, was wir essen, wie wir reden, uns kleiden. Wie wir wohnen, lernen, lieben, arbeiten. Kinder sind Gedöns, Homos, Ausländer, Alte. Tiere sowieso. Alles also jenseits der „harten Themen“. Die taz macht drei Wochen Gedöns, jeden Tag vier Seiten. Am Kiosk, eKiosk oder direkt im Probe-Abo. Und der Höhepunkt folgt dann am 25. April: der große Gedöns-Kongress in Berlin, das taz.lab 2015.
Ein Beispiel aus einem anderen Feld, auf dem auch viele öffentlich spielen, um sich verletzt und gekränkt zu zeigen: Ist es schon homophob, wenn eineR sagt, Schwule sollten keine Kinder adoptieren können? Muss man eine solche Person des politischen Hochverrats am Guten und Wahren zeihen? Oder reicht es nicht zu entgegnen: Nee, finde ich doch? Weshalb hat man in Baden-Württemberg mit den Kritikern der neuen Sexualkunderichtlinien nicht souveräner, lässiger und freundlicher umgehen wollen? Und wieso waren die Anzüglichkeiten eines Rainer Brüderle so skandalös – wenn man ihn doch hätte auch ins Leere laufen lassen können?
Baden und Suhlen im eigenen Leid
Kurzum: Was moniert wird, ist durch die Bank darauf gerichtet, Opfer zu sein, sich als gekränkt, schwer mitgenommen und – Achtung, schlimmstes Modekampfwort: – traumatisiert zu geben? Vom Umstand abgesehen, dass damit alle Traumen und Kränkungen nivelliert werden und schon ein Schubsen und Rempeln offenbar reicht, zum Kreis der Geschundenen gerechnet zu werden: Was hat das alles mit Politik zu tun?
Könnte man Angehörigen von Minderheiten, also, nun ja, Diskriminierten nicht beibringen: Wehrt euch so, dass ihr euch nicht zum Opfer macht! Der Standardspruch von Erwachsenen in den 50er Jahren, der Nachkriegszeit, zu ihren Kindern, waren sie hingefallen und hatten blutige Knie, war: Stell dich nicht so an! Nein, ein solcher Satz kann herzlos sein, aber er enthielt, bei aller Schroffheit, auch die Botschaft, dass ein Baden und Suhlen im eigenen Leid vielen dient, aber nicht das Leid selbst tilgt.
In Wahrheit haben diese Formen des Opferismus („Du bist traumatisiert, willst du das nicht einsehen?“) eine zur umsatzstarken Branche aufgeplusterte Schar von Helfern. Es sind Interpreten des Schlimmen, das anderen widerfährt. Jede Goodwillkampagne, die im Übrigen meist der Staat finanziert, für Minderheiten birgt ein Arbeitsplatzversprechen: Wäre das Leiden am Ende, müsste es keine DeuterInnen geben. Da das in deren Interesse nicht liegt, kann das Beklagenswerte nicht verschwinden.
Wir haben uns zu viel mit Gedöns beschäftigt, die linken Milieus haben zugelassen, dass die Fragen, um die es in allem Ernst gehen muss, nicht im Fokus standen. Sei es der Klimawandel, die Demokratie, die globale Gerechtigkeit oder auch der Sozialstaat schlechthin, von dem man (Pierre Bourdieu), als wichtigstem europäischen Kulturgut der Moderne sprechen muss?
Sage jetzt niemand, dass man das alles nicht gegeneinander ausspielen dürfe. Doch, das sollte man: Der Kampf um die ökologische Transformation oder die Abwehr eurasisch-totalitärer Strategie russischer Provenienz sind wichtiger als eine Wortpolitik, die ohnehin immer von sprachpolizeilichem Charakter war. Das sind die Fragen, um die es gehen muss. Wer das Kürzel LGBTI* nicht auswendig aufsagen kann, ist noch nicht transphob. Mit dem geißelnden Wortanhängsel -phob ist sowieso noch nichts gewonnen: Irgendwann sind alle -phob, also Feinde: Weil jedeR Fehler macht.
Es wird ja nicht so eintreten, aber ein Schlussstrich unter diese Debatten wäre erholsam. Reicht für die kleinen Kämpfe des Alltags nicht, Betroffene (noch so ein Wort!) stark zu machen? Und sich darauf zu verständigen: Anstand zu wahren reicht. Nebenbei: Es gehört zum Leben, Kränkungen auszuhalten und nicht alles auf sich zu beziehen. Oder wird durch diesen Satz schon wieder ei_neR schwer gedemütigt?
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