: Dynamisch in der russischen Provinz
Die Russische Biennale für Nachwuchsarchitekten in Kasan, Hauptstadt der Republik Tatarstan, soll für Entwicklungssprünge sorgen. Die insgesamt 30 Preisträgerentwürfe waren in der Aedes Architekturgalerie zu sehen
Von Tom Mustroph
Die Umwandlung und Umnutzung von früheren Industriearealen ist fast überall auf der Welt ein Thema. In Russland ganz besonders. Denn überall finden sich verlassene Monumente der Schock-Industrialisierung, die das Land nach der Oktoberrevolution durchlaufen hatte – und deren Kapazitäten nun oft brachliegen. Das ist auch in Kasan der Fall. In der Stadt an der Wolga wurden im vergangenen Jahr ein Teil des alten Hafengeländes mit einem imposanten Getreidesilo und das Areal um die Santekhpribor-Fabrik zur Aufgabenstellung der Teilnehmer der 2. Biennale für junge Architekten auserkoren.
Mehr als 700 Einsendungen gab es, die meisten aus Russland. Nach Angaben der Biennale-Direktorin Nataliya Fishman-Bekmambetova kam etwa die Hälfte von ihnen aus Moskau und Petersburg, die andere Hälfte aus anderen, den provinzielleren Landesteilen. Das ist bemerkenswert. Denn die Stärkung der Provinzen ist ein explizites Anliegen der 2017 erstmals ausgetragenen Biennale. Damals konnten Architekten freie Entwürfe für Wohnkomplexe einreichen. Daraus entwickelten sich dann sogar reale Projekte. „Alle Preisträger haben Verträge mit dem staatlichen Wohnungsbaufonds für ein Wohnareal in Kasan unterschrieben. Außerdem können die Preisträger und einige der Finalisten auch an Bauprojekten in kleineren Städten Tatarstans teilnehmen“, sagte Fishman-Bekmambetova. Sie ist Beraterin des Präsidenten Tatarstans und Chefin des Programms zur Entwicklung des Öffentlichen Raums. Das realisierte seit 2015 bereits 328 Projekte und erhielt dafür auch den renommierten Aga Khan Architekturpreis. Kommandostrukturen können manchmal also durchaus positive Effekte zeitigen.
Der Arbeitsalltag gestaltet sich aber selbst für Preisträger nicht unbedingt idyllisch. „Es ist komplex. Unser Projekt gehört zum sozialen Wohnungsbau. Das heißt, alle Entscheidungen, die wir treffen, müssen einfach, kostengünstig und effektiv zugleich sein“, wird der 1. Preisträger der Biennale 2017, Mikhail Beylin, im Katalog zitiert. Immerhin, die Mühen werden auch der Öffentlichkeit bekannt.
Für die zweite Ausgabe der Biennale – kuratiert übrigens vom auch in Deutschland sehr aktiven Architekten Sergei Tschoban – wurden gleich ganz reale Aufgaben gestellt.
Das Areal der alten Santekhpribor-Fabrik strahlt ruinösen Charme aus. Einige der Entwürfe wollen ihn bewahren, zugleich aber auch eine Transformation vollbringen. Am besten gelingt dies Son Architecture aus Moskau. Ihr Entwurf zitiert bei den Mauern im Erdgeschoss noch die alte Ziegelsteinarchitektur. Darauf werden die oberen Stockwerke aus dem Material Glas gesetzt. Auch der historische Fabrikschlot wird um einige gläserne Ringe ergänzt. Die Ruinen einiger alter Fabrikanlagen werden als historische Zeugnisse in ihrem Verfallszustand konserviert. Das wirkt wesentlich ambitionierter als die meisten Fabriksanierungen und -transformationen hierzulande.
Andere Entwürfe spielen vor allem frei mit modernistischen Formen. Das Studio 0806 aus Samara setzt kubistisch wirkende Baukörper ins Areal. Das Bureau ARD aus Krasnodar würfelt mit komplexeren Quaderstrukturen.
Bei der alternativen Wettbewerbsaufgabe sticht zunächst der gigantische Getreidespeicher aus 168 Silos von 30 Metern Höhe mit noch über die Struktur hinausragendem Fahrstuhl ins Auge. Das Gebäude soll erhalten bleiben. Zahlreiche Entwürfe, etwa der von Ilya Obodovsky aus Simferopol, auch mit dem Preis des russischen Bauministeriums ausgezeichnet, sehen vor allem Kultur- und Büro-Nutzungen vor. Der Glaube, dass in Co-Working-Spaces das (Arbeits-)Glück der jüngeren Generationen liege, ist auch bei vielen dieser Architekten unter 35 Jahren angekommen.
Die umliegenden Flächen sind teilweise als Park, vor allem aber für Wohnungsbau vorgesehen. Recht originell wirkt dabei der Vorschlag von Kamil Tsuntaev aus Makhachkala, der Hauptstadt der hierzulande vor allem wegen kriegerischer Konflikte bekannten Republik Dagestan. Er will den großen Speicher mit einem Geflecht aus Häusern mit spitzen Dächern, die der Form traditioneller Jurten nachempfunden sind, regelrecht umhüllen.
Zu sozialen Komponenten, also wer sich die Wohnungen leisten können soll, ob die Bewohnerschaft sozial und kulturell gemischt sein sollte, äußerten sich die Wettbewerber nicht. Das ist schade. Adressat bei den Arbeits- wie den Freizeitnutzungen scheint vor allem die entstehende urbane Mittelschicht.
Konzeptionell herausragend unter den 15 Entwürfen zum Getreidespeicher ist die Idee des SA Lab aus Petersburg. Es will die alte Kornlagerstelle in ein Datenspeicherzentrum umbauen, vom Korn zum Byte also. Das würde passen. Denn vor den Toren Kasans entsteht seit 2012 die Satellitenstadt Innopolis. Dies ist eine auf Informationstechnik ausgerichtete Musterstadt, die gern zum Silicon Valley an der Wolga werden möchte. Datenzentren braucht es da sicherlich. Und es zeigt sich mal wieder: Russland ist ziemlich dynamisch, sogar in den Provinzen.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen