: Und sie husten doch
AUS LÜNEN MIRIAM BUNJES
Karl Kluges kleine Patienten husten chronisch – ohne, dass sie einen Infekt haben. Ihm sind seine Lüner Kinder unheimlich geworden im Laufe der Jahre. Sie haben Pseudo-Krupp, Neurodermitis, Asthma. „An den Wochenenden ist es am schlimmsten“, sagt der Kinderarzt. „Dann kommen die Kinder mit dem Nasenbluten.“ „Das Nasenbluten“ ist für Karl Kluge vor allem ein Lüner Phänomen. „Denen schießt richtig viel Blut aus der Nase“, sagt der 63-Jährige. „Ohne dass sie vorher krank waren oder sich stark angestrengt haben.“ Er gibt ihnen Cortison – für ihn eigentlich die letzte Wahl. „Für den Augenblick hilft das immer“, sagt er. „Gegen die Ursachen aber nicht.“ Blei, Arsen, Quecksilber – es sind vor allem Schwermetalle, die solche Reaktionen hervorrufen können. „Wissenschaftlich ist das unumstößlich“, sagt Kluge und streicht sich nervös durch die graublonden Haare. Den Weg der Metallstäube in die Atemwege seiner Patienten kann er nicht beweisen. „Die Patientengeschichten, die ich hier gesammelt habe, sprechen für sich“, sagt der Kinderarzt. „Sie beweisen: Lünen macht die Kinder krank.“
Lünen, knapp 90.000 Einwohner, nördliches Anhängsel von Dortmund. Die Zechen sind zu, die Arbeitslosigkeit bei 16 Prozent. Nach Lünen ist das Ruhrgebiet zu Ende und das Münsterland beginnt. Mit Kühen, Erdbeerfeldern und flachen westfälischen Bauernhöfen. Ein bisschen sieht es in Lünen auch so aus, vor allem am nördlichen Rand. Da, wo laut Kluge die kränksten Kinder wohnen, die mit den Blut schießenden Nasen.
Hier stehen die Kühe und die Erdbeerfelder vor Schornsteinen, großen betongrauen oder wahlweise schmalen beigen. Sie gehören einem Steinkohlekraftwerk und der größte Abfall-Recycling-Anlage Europas, dem Lippewerk. Hier werden Tierkadaver verbrannt und seit vergangenem Sommer auch alte Bahnschwellen in einer Biomasseanlage, spezialisiert auf Altholz. „Die verbrannten Schlachtabfälle riechen manchmal schlecht“, sagt der Beigeordnete der Stadt Lünen, Jürgen Evert. „Dann rufen auch immer wieder Bürger an und beschweren sich oder machen sich Sorgen.“ Ihnen sagt er dann, dass Dinge, die schlecht riechen, nicht zwangsläufig schädlich sind und alle Werte im Normbereich liegen.
„Die Luft in Lünen ist sogar besser geworden“, sagt Rainer Schmeltzer, SPD-Landtagsabgeordneter aus Lünen. Er hat wegen des Kinderarztes aus seiner Heimat- und Wahlkreisstadt eine Anfrage an das Umweltministerium gestellt. Sein Fazit: „Natürlich muss man solche Äußerungen ernst nehmen, aber ein Arzt hat ja eine verzerrte Sicht auf die Gesundheitssituation: Er sieht ja nur die kranken Kinder.“
Oder die, die krank werden. Karl Kluges wichtigster Beweis: Die Zugezogenen. „Die Migrantenkinder sind ein knappes halbes Jahr hier, dann fangen sie auch an zu husten und sich zu jucken“, sagt Kluge. Ihre Eltern seien auch viel besorgter als die einheimischen. „Lüner Eltern sagen oft zu mir: Als Kind hatte ich auch eine offenen Ausschlag am ganzen Körper, das wächst sich aus“. Die eingewanderten Eltern dagegen hätten so etwas oft noch nicht erlebt. „Ihre Kinder bekommen einen normalen Atemwegsinfekt, der einfach nicht mehr weggeht“, sagt Kluge. „Das kennen sie von ihrem Kind gar nicht.“
Er kriegt tatsächlich die schlimmsten Hustenfälle Lünens. „Weil ich auch Allergologe bin, überweisen mir die anderen Kinderärzte die, bei denen es nicht besser wird“, sagt er. Als er vor 1985 aus einem Dorf bei Stuttgart zuzog, um die Lüner Kinderarztpraxis zu übernehmen, hatte er es kaum anders erwartet. „Wie sollte es auch anders sein, im Ruhrgebiet, mit dem ganzen Schwefel von den Kokereien?“, sagt er heute. Damals wie heute ließ er die Kinder inhalieren, riet den Eltern, an den Wochenenden ins Sauerland oder nach Holland ans Meer zu fahren. „Nach mehr als zwanzig Jahren Strukturwandel sollten solche Krankheiten abnehmen. Stattdessen nehmen sie zu.“
Schwefelig ist die Lüner Luft tatsächlich kaum noch, zeigen die vom Umweltministerium zusammengestellten Messdaten. Auch Feinstaub und Stickstoff sind „im unteren Normbereich“, schreibt Umweltminister Eckhard Uhlenberg (CDU). Nur eines ist in Lünen nicht normal: Die Lüner Luft enthält deutlich häufiger Blei, Cadmium, Arsen und Nickel als es die gesetzlichen Grenzwerte vorschreiben. Verursacher sind, stellten die Umweltbehörden schon im Februar fest, die Hüttenwerke Kayser, die zur Norddeutschen Affinerie AG gehören und kupferhaltige Produkte recyclen. Die Hüttenwerke müssen bis 2009 einen neuen zehn Millionen Euro teuren Filter einbauen.
„Die Diskussion um die angeblich so schlechte Lüner Luft sollte damit beendet sein“, sagt Friedhelm Schröter, Vorsitzender der Lüner CDU. „Die Werte waren auch nur im Umkreis der Hüttenwerke schlecht, sie betreffen gar nicht die ganze Stadt.“
Und vor allem mit einem sollen diese Luftwerte nicht in Verbindung gebracht werden: Mit einem neuen Steinkohlekraftwerk, das die Stadtwerkekooperation Trianel bis spätestens 2012 in Lünen bauen will. „Das Kraftwerk wird kommen“, sagt Schröter und auch der SPD-Vorsitzende Hugo Becker kommentiert: „So einen Push braucht Lünen.“ Der CO2-Ausstoß Lünens sei schließlich im normalen Bereich, argumentiert die politische Mehrheit einhellig, und eine Stadt mit einer Arbeitslosigkeit wie Lünen wäre verrückt, eine 750 Millionen Euro schwere Investition auszuschlagen. Zumal: „Wenn Trianel nicht zu uns kommt, bauen sie in einer anderen Kommune“, sagt der SPD-Abgeordnete Schmeltzer aus Düsseldorf. „Dem Klima ist das egal.“
Die Stadt Krefeld war so verrückt: Aus Umwelt- und Klimaschutzbedenken haben CDU und SPD-Politiker im März gemeinsam ein Trianel-Steinkohlekraftwerk gekippt, in dem sie die notwendige Baugenehmigung nicht erteilte. Einen Tag später bot Hamms Oberbürgermeister Thomas Hundsteger-Petermann (CDU) Trianel ein Gelände in seiner Stadt an.
„Krefeld ist bei uns nicht möglich“, sagt CDU-Chef Schröter. „Baurechtlich ist schon alles in trockenen Tüchern.“ Eine noch namenlose Bürgerinitiative will es trotzdem versuchen. 4.000 Unterschriften will ihr Gründer Thomas Mathée bis zum Sommer sammeln. Dann muss der Lüner Stadtrat nochmal über das Kraftwerk beraten. „Wir haben schon drei Kraftwerke hier“, sagt Mathée. „Und in allen Nachbarstädten stehen auch mehrere, wir wollen uns nicht mehr krank machen lassen.“ Bis zum Sommer will Mathée auch noch andere Luft-Themen öffentlich machen. „Hier gibt es nur ein Messgerät“, sagt er. „Und das steht im Lüner Süden, obwohl die schlimmsten Dreckschleudern im Norden stehen.“
„Ich hoffe sehr, dass die Lüner jetzt endlich anfangen, sich zu wehren“, sagt Kinderarzt Kluge. Auch er will kein neues Kraftwerk in der Stadt, die nach 22 Jahren seine Heimat geworden ist und in der auch seine 13-jährige Tochter aufwächst, „zum Glück hustenfrei.“ Er hat die Leiden seiner Patienten aber aus einem anderen Grund öffentlich gemacht. „Ich höre bald auf zu arbeiten und habe keinen Umweltmediziner gefunden, der mir nachfolgt“, sagt er. „Sonst wird das vielleicht nie öffentlich.“
Vermutungen über drastische Umweltschäden hätten aber viele Lüner Ärzte. „Sie sprechen sie nicht laut aus, weil sie genau wie ich nicht lückenlos den Weg des Gifts beweisen können, sondern ihn nur vermuten“, sagt Kluge. „Mir ist das aber egal, ob mich die Lüner Wirtschaftsförderer für einen Alarmisten halten. Ich will wirklich mal Alarm schlagen.“ Deshalb sagt Kluge auch Sachen, „die Zufall sein können, aber für mich ins Bild passen“: Dass er auch immer mehr kleine Leukämie-Patienten hat und immer mehr Kinder sieht, die mit sechs Fingern und sechs Zehen zur Welt kommen. „Das ist alles nicht amtlich, das heißt aber leider nicht, dass es nicht wahr ist.“
Eine Zunahme von Leukämie hat allerdings nicht nur er in Lünen beobachtet, sondern auch ein alteingesessener Tierarzt. „Ich behandele auffallend viele Hunde wegen Leukämie“, sagt Michael Coers. „Das werden seit Jahren immer mehr. Wenn ich mit Kollegen aus anderen Städten darüber spreche, sind sie sehr verwundert, sie haben das nicht.“ Wie Karl Kluge hat auch Coers seine Lehrbücher studiert. Gefunden hat er kaum etwas. „In der Humanmedizin wird Leukämie aber auch in Zusammenhang mit Umweltverschmutzung gestellt“, sagt der Tierarzt. „Und Hunde sind ja noch mehr in Kontakt mit dem Boden als Menschen.“
Wenn Karl Kluge durch sein persönliches Zeitungsarchiv blättert, kriegt er Angst um Lünens Zukunft: In einem Interview mit der Westfälischen Rundschau lobt Ludger Rethmann, Vorstandssprecher der Rethmann-Tochter Remondis, die Lüner Bevölkerung für ihre Akzeptanz des Lippewerks, der erste Artikel zum Trianel-Kraftwerk in der gleichen Zeitung beginnt mit diesen Worten: „Was für eine wunderbare Nachricht: In Lünen werden sich wieder die Baukräne drehen. In Lünen wird wieder investiert. In Lünen entstehen neue Arbeitsplätze“. Für Kluge eine typische Ruhrgebietseinstellung: „Die Leute hier haben verinnerlicht, dass Arbeitsplätze zwangsläufig mit Umweltverschmutzung zu tun haben und ertragen stoisch die Folgen“, sagt der Kinderarzt. „Und weil hier fast alle Kinder husten, denkt man irgendwann: Kinder husten eben.“
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