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Analyse zum Türkei-ReferendumDer selbsterklärte Sieg

Nicht das türkische Volk hat für die Präsidialdiktatur gestimmt. Die Abschaffung der Demokratie ist das Werk der Provinz gegen die Städte.

„Ja“-Unterstützer feiern am Sonntagabend in Istanbul Foto: ap

Istanbul taz | Noch liegt kein offizielles Wahlergebnis vor, doch für Präsident Recep Tayyip Erdoğan steht bereits fest, dass sein Präsidialsystem bei der Volksabstimmung gewonnen hat. In einem Telefonat gratulierte er seinem Ministerpräsidenten Binali Yildirim und dem türkischen Volk. Tatsächlich hat nicht das türkische Volk für die Präsidialdiktatur gestimmt, sondern, wenn überhaupt, der ungebildete, bescheiden informierte Provinzler in Tateinheit mit den Erdoğan-Fans im europäischen Ausland gegen die gebildeten informierten Schichten des Volkes.

Die Abschaffung der Demokratie in der Türkei ist das Werk der Provinz gegen die Städte, der anatolischen Landbevölkerung gegen die Bewohner der Metropolen. Allem Druck, allen Tricks und aller Repression zum Trotz, haben die Mehrheit der Wähler in den drei Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir gegen die Verfassungsreform gestimmt. Die gesamte Küstenregion rund um das Marmarameer, entlang der Ägäis- und der Mittelmeerküste hat teils mit deutlich Abstand mit Nein gestimmt. Das bedeutet: Die gesamten produktiven Teile des Landes, die gesamte wirtschaftliche Elite, ist gegen Erdoğans Alleinherrschaft.

In keiner bisherigen Wahl hat Erdoğan in Istanbul und Ankara verloren. Beide Metropolen werden seit langem von der AKP regiert. Selbst bei den Kommunalwahlen ein halbes Jahr nach dem Gezi-Aufstand in Istanbul, konnte die AKP in der wichtigsten türkischen Stadt gewinnen. Dieses Mal nicht. Dieses Mal hat sich gezeigt, dass die entwickelte Türkei den Erdoğankurs nicht mehr will. Die Bewohner der Metropolen wollen weder eine Präsidialdiktatur noch den Bruch mit dem Westen, den Erdoğan angedroht hat.

Mit dem Ergebnis des Referendums vollzieht sich eine Teilung der Türkei, die sich schon bei den letzten Wahlen angedeutet hatte und nun endgültig manifest wird. Die säkulare, westlich orientierte Bevölkerung konzentriert sich an der Küste und in bestimmten Stadteilen von Istanbul und Ankara. Die islamische Provinz übernimmt mit dem jetzigen Sieg die Kontrolle über das Land.

„Hier wird jetzt für die nächsten Jahrzehnte der Deckel zugeklappt“, meinte ein enttäuschter „Nein“-Wähler in Istanbul, während Ministerpräsident Yildirim in Ankara versuchte, den knappen Wahlausgang zu einem großen Sieg der Demokratie umzudeuten. „Die Türkei war lange eine Demokratie im Werden“, sagte ein anderer „Nein“-Unterstützer, „jetzt droht uns eine ganz gewöhnliche, brutale nahöstliche Diktatur“.

Lesen Sie hier den Kommentar zum Referendum in der Türkei

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12 Kommentare

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  • Die Stimmen der Deutschtürken mit 63% Zustimmung dürften, das Zünglein an der Waage gewesen sein.

     

    Sollten die Deutschtürken, den in der Türkei lebenden Türken tatsächlich eine Diktatur bescheert haben, mögen sich diese hier in Grund und Bogen schämen. Die Brüdern und Schwestern in der Heimat in die Diktatur zu schicken und selbst die vorzüge eines Rechtsstaates zu genießen, ist einfach ungeheuerlich!

     

    Um es mal klar zu formulieren, für uns hier ist das im Grunde kein großes Problem, am Beispiel Agypten sieht man, auch in einer Diktatur läßt sich hervorragend Urlaub machen, nur Leben will da halt Niemand. Höchstwahrscheinlich noch nicht einmal jene die Pro-Erdogan gestimmt haben.

     

    Und Investieren will da freilich auch keiner, wer weiß schon was dem Sultan morgen einfällt was Recht ist und was nicht.

     

    Erdogan wird keines seiner Versprechen halten können, dass führt letztlich zu Repressionen gegen irgendwelche Sündenböcke!

  • Bitte verzeihen Sie, Herr Gottschlich, das ist doch unter Niveau ("..nicht das Volk...").

    Wie wissen, dass der Spruch "das Volk hat entschieden" immer zumindest vereinfachend ist und nie auch nur annähernd stimmt (weil es immer Minderheitenstimmen gibt und "das Volk" ohnehin nie nur eine einzige Meinung hat). Ihre Analyse (Stadt gegen Land + AuslandstürkInnen) ist richtig und wichtig! (Danke dafür!)

    Ihre Formulierungen unterstellen jedoch, das in anderen Situationen "das Volk" (gleichsam gemeinsam) Entscheidungen treffen würde. Sie stellen einen konkreten Anspruch an ein abstraktes Prinzip. Wie wird wohl das französische Volk entscheiden? Am Ende wird einE PrösidentIn stehen, die/den fast 3/4 der Wählenden ablehnen (egal, wer's wird), über die Wahlberechtigten und die Minderjährigen wissen wir noch weniger.

    Es klingt hier so, als wollten Sie (in guter europäischer Tradition) die unteren Schichten wieder aus "dem Volk" aussortieren, auch, wenn Sie das so sicherlich gemeint haben (wollen). Damit muss man sehr vorsichtig sein. Und mal ehrlich: Dass einem die Meinung der Mehrheit nicht passt, ist wohl jedem von uns bekannt.

     

    Die Debatte über die Rolle "Europas" bei der doppelten Zurückweisung (der

    z.B. in D. lebenden Türkinnen und der Türkei als Staat) überlasse ich an dieser Stelle anderen. Und ich bin auf Ihre Einordnung sehr gespannt.

     

    P.S.: Den Begriff "Tateinheit" verwenden Sie nicht richtig.

    Tateinheit = ein Akteur, eine Tat, mehrere Folgen/Gesetzesbrüche

    im Verbund mit = mehrere Akteure, eine gemeinsame Tat

    An sich ist das reichlich wurscht, allerdings sollte man gerade bei einem so wichtigen Thema, dass einen enttäuscht und verstört und das zwei große Gruppen einander gegenüberstellt, vorsichtig sein und wenige unsachliche/wertende und nicht korrekten Begriffe gebrauchen. Es heißt ja auch Analyse und nicht Kommentar.

    • @MontNimba:

      Es ist ganz einfach so und sehr sichtbar: DIE, die dem Land die Kohle bringen, DIE, die was tun statt jammern, DIE, die gebildet, offen und kooperativ sind, haben Erdogan NICHT gewählt.

      DIE, die ungebildet, rückständig und religiös gefesselt sind, DIE die sich von Lügen und Propaganda einlullen lassen..DIE haben Erdogans Abwärtskurs gewählt.

      Man könnte auch überspitzt sagen: die "anatolischen Trottel" (O-Ton eines Stadt-Türken in der Türkei) haben gegen die Wirtschaftkraft und Bildung der restlichen Türkei gestimmt.

      Oder auch: DIE Türken, mit denen wir SEHR gerne weiter zusammengerückt wären, die in der Lage sind, eine respektable nationale Identität und globale Entwicklung unter einen Hut zu bringen...die werden jetzt leiden. DIE sind uns wichtig.

      Der Outback-Bergbauer hat im Grunde über Dinge entschieden, die das ganze Land zurückwerfen vermutlich noch hinter den jetzigen Stand - nur, dass ihm das rein gar nichts bringt.

      Gut, dass wir noch zwei Mal dort waren, und zwar auch zu Hause bei den Ärmeren auf dem Land, wandernd. Als man noch offen reden konnte und mit offenen Armen empfangen wurde. Erdogan macht jetzt den Westen zu Nazis und Feinden. In einem Klima des Rückschritts, der Ablehnung und Angst will ich nicht mehr reisen.

      Bildung und kulturelle Globalisierung ist der langfristig einzig richtige Weg, um die Differenzen zu minimieren und mehr Frieden zu schaffen. Solange Unterdrückung und Intoleranz vorherrschen, gibt es Zoff.

      • @Mitch Miller:

        Einerseits: Sicher, ja!

        Andererseits sagt Ihr Text eben auch aus, dass Sie mit vielen in D. lebenden TürkInnen lieber nicht weiter zusammenrücken wollen. Oder?

        Was war nun zuerst, das Ablehnen oder das Abwenden?

        Wenn ich mir mich selbst als Deutschtürke vorstelle, hätte ich natürlich dennoch niemals für diese Verfassungsänderung gestimmt - sage ich mal so. Bringt halt nichts, denn von außen fühlt und denkt es sich stets anders.

        Man konstruiert sich halt immer gegenseitig.

        • @MontNimba:

          Da darf und muss man differenzieren: ich rücke sehr gerne mit den Türken zusammen, die so halbwegs meine Werte teilen (also alle, die Erdogan NICHT gewählt haben...was sie auch sonst so glauben mögen).

          Die anderen dürfen gerne "heim" gehen, denn ich kann nicht nachvollziehen, dass sie hier gerne in einer sicheren Demokratie leben und alle Vorzüge geniessen, andererseits aber der fernen heimatlichen Türkei einen Diktator bescheren.

          Es mag Argumente für ihn geben (lähmende, nicht funktionierende Demokratie usw.). Auch Atatürk hat dazumal seine Reformen sehr autokratisch durchgesetzt...das ging aber aus unserer Sicht in die "richtige" Richtung. "Richtig", weil ich eine Position als "bessere" einnehmen darf, die Menschenrechte und eine kontrollierte Justiz ernst nimmt, einschliesslich doch überwiegend sauberer Wahlvorgänge.

          Aber man hätte auch die Demokratie verbessern können ohne konzentrierte Allmachten und moralischen Rückschritten. Die Zeiten Atatürks sind doch schon länger vorbei, denn sein Hauptjob war ja, Religion und Staat zu trennen, was allemal sinnvoll ist aus internationaler Sicht.

  • vorsicht vor dem gebrauch des eliten-begriffs!

    die menschen, nicht die eliten an der küste begreifen, dass der tourismus ausbleibt, wenn erdogan sie immer weiter in die diktatur führt. das hat mit bildung, aber auch mit der angst vor der ausbleibenden einnahmequelle zu tun, die der tourismus darstellt.

    die kurdenregionen, die im osten beinahe geschlossen gegen das referendum gestimmt haben und weitaus mehr dabei riskieren, unterschlägt Gottschlich gleich ganz.

    es ist diese art von journalismus, die ewrst im nachhinein immer schon gewusst hat, was sie vorher allenfalls hat andeuten wollen. und das, obwohl seit zwei jahren offensichtlich, dass erdogan es drauf anlegt, eine alleinherrschaft zu errichten. er muss den kopf aus der schlinge zu ziehen, die er sich selbst umgelegt hat. seine verbrechen sind so umfassend, dass es mit der einführung der todesstrafe im besten fall ihn selbst einmal treffen könnte. die möglichkeit ist, angesichts tausender toter und einer halben millionen entwurzelter kurdischer binnenflüchtlinge, nur ein schwacher trost.

  • 3G
    32795 (Profil gelöscht)

    "...sondern, wenn überhaupt, der ungebildete, bescheiden informierte Provinzler in Tateinheit mit den Erdoğan-Fans im europäischen Ausland gegen die gebildeten informierten Schichten des Volkes...."

     

    Und so begann es. Egal ob USA, GB, Österreich, Deutschland oder Türkei, die "Gebildeten" verstecken ihre Abscheu den "ungebildeten Provinzlern" gegenüber nur leidlich. Seit vielen Jahren ergeht ein Feuerwerk der Gemeinheiten über die altbackenen Konservativen. Und nun, am Punkt der wütenden Reaktion wundert man sich...

     

    Toleranz für jeden gestrauchelnden Jüngling dieser Welt, aber für den Dorfjungen der Rechtsrock hört ist die Verfolgung durch die Antifa gerade gut genug. Hunderte Milliarden für gefallene Banken und Staaten, aber kein Geld für die Dorfschule. Der Kampf gegen Alkohol und Tabak macht auch der letzten Dorfkneipe den Gar aus, sollen die Lümmel halt daheim bleiben. Kein Argument war zu scheinheilig und kein Witz zu platt, im Kampf gegen den Konservatismus war jedes Mittel recht.

     

    Und nun sind sie stinksauer. Der Diktator wird der Demokratie vorgezogen. Wenn kein Diktator in Sicht ist, dann nimmt man halt das nächstbeste Irgendwas das die Demokratie der Anderen zerstört.

     

    Macht kaputt was euch kaputt macht!

     

    Und nu? Was tun mit einer stinksauren und nachhaltig beleidigten Masse? Weiter beleidigen? Joa, klingt gut. Die ungebildeten Provinzler, auf sie mit Gebrüll!

     

    Wenn die Linke nicht schnell von ihrem hohen Ross runterkommt ist Ende....

    • @32795 (Profil gelöscht):

      "Der Kampf gegen Alkohol und Tabak macht auch der letzten Dorfkneipe den Gar aus, sollen die Lümmel halt daheim bleiben. Kein Argument war zu scheinheilig und kein Witz zu platt, im Kampf gegen den Konservatismus war jedes Mittel recht."

       

      Und das ist das Problem derjenigen, die sich "konservativ" nennen, dass sie Argumente scheinheillig vorbringen ohne auch nur im Geringsten zu differenzieren. Hier mal ein Hinweis, wie Erdoğan die betroffenen Kneipen schützt: https://www.welt.de/politik/ausland/article141719420/Wie-Erdogan-die-Partystadt-Istanbul-trockenlegt.html

       

      Trump ist btw absoluter Abstinenzler nach dem Tod seines Bruders durch Alkohol.

       

      Die AfD-Wählerschaft zeigt auch keinerlei Schwerpunkte bei der Bildungsherkunft.

       

      Sie sollten nicht alles glauben, was in der bösen, linken Presse steht.

      Die Welt ist nicht immer so einfach schwarzweiß, wie es derjenige, der sich "konservativ" nennt, gerne hätte.

    • 6G
      60440 (Profil gelöscht)
      @32795 (Profil gelöscht):

      Und weil die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) seit 2002 regiert, und bei den minderbemittelten Dorftrotteln keine der von ihnen so ersehnten Volksschulen baute, statten sie den Präser dieser Partei zum Dank mit größtmöglichen Vollmachten aus und fahren gemeinsam mit ihm in die Diktatur. Das macht wirklich Sinn ...

    • @32795 (Profil gelöscht):

      & Ausgrenzung ala EU - ja.

       

      Ok. Das macht es nicht besser - aber - Gemach -

      Der kleine Prinz & Dialektik der Aufklärung.

      Antoine de Saint-Exupéry & -

      Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.

      Neu ist das alles nicht.

      Nur - Ihr "Konservativismus" hin oder her. Es bleibt inhuman-reaktionär!

  • 6G
    6120 (Profil gelöscht)

    Dieses Wahlergebnis folgt dem inzwischen sattsam bekannten Wahlmustern aus den USA, dem Brexit und auch der österreichischen Präsidentenwahl (mit glücklicherem Ausgang für die "Städter").

    Das besondere Problem in der Türkei besteht darin, dass Gewaltenteilung gemäß Montesquieu dort nicht voll etabliert ist (vgl. die groteske Inhaftierung von Deniz Yücel) und deshalb die institutionellen Korrekturen, die die fatalen Konsequenzen der Wahl von Demagogen und Populisten durch eine antidemokratische Bevölkerung abmildern würden, noch nicht etabliert sind und mit diesem Referendum weiter in die Defensive geraten.

    • @6120 (Profil gelöscht):

      Ist es nicht eher so, dass Richter einfach Angst haben, ein Urteil zu sprechen gegen Erdogans Weisung? (Sofern denn überhaupt noch unabhängige Richter und Staatsanwälte im Amt sind.)