30 Jahre Kreuzberger Mai-Krawalle: Die Geburt eines Mythos

Am 1. Mai 1987 legten Teile der Kreuzberger Bevölkerung ihren Kiez in Schutt und Asche – der Beginn einer langen Konfrontation zwischen Linken und Polizei.

Ritual seit 1987: autonome Inszenierung des „Volkszorns“ (hier: 2003) Foto: dpa

Die Revolte, die Berlin am 1. Mai 1987 völlig unvorbereitet getroffen hatte, war gerade einen Tag alt, da hatte Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) bereits eine Erklärung parat: „Eine Clique von Anti-Berlinern hat sich in brutaler Gewalt zusammengerottet, um zu stören und zu zerstören. Das lassen sich die Berliner nicht gefallen.“

Damit war ein Wort in der Welt, das die linke Szene, an die es gerichtet war, liebend gerne annahm. Berliner versus Anti-Berliner, das entsprach so ganz dem Wunsch der Autonomen nach einer „revolutionären Gegenmacht“. Einem permanenten Ausnahmezustand, wie er sich in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1987 erstmals gezeigt hat. An einem Ort, der an diesem Tag einmal mehr zum Mythos geworden ist. Kreuzberg SO 36.

Der 1. Mai vor 30 Jahren war der erste heiße Tag in diesem Jahr. Schon morgens um acht hatte das Thermometer die 20- Grad-Grenze überstiegen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Polizei ihren ersten Einsatz bereits beendet. Frühmorgens waren mehrere Hundertschaften in den Mehringhof, das Zentrum der autonomen Szene, eingerückt und hatten das Büro der Volkszählungsboykott-Initiative durchsucht – ohne richterlichen Beschluss. Für die linke Szene eine Provokation in einer ohnehin angespannten Atmosphäre.

Tags zuvor hatten im ICC die Feierlichkeiten zur 750-Jahr-Feier begonnen, live übertragen vom ZDF. In Konkurrenz zu Ostberlin wollte sich der Westberliner Senat mit aller Macht als der weltoffene Part der geteilten Stadt präsentieren. Für eine historische Ausstellung im Gropius-Bau und eine Kunstausstellung unter dem Titel „Mythos Berlin“ auf dem Anhalter Bahnhof hatten die Verantwortlichen auch linke Projektemacher engagiert, so wie überhaupt viel Geld in die alternative Kulturszene geflossen war.

Party im Armenviertel

Doch im ehemaligen Postzustellbezirk Südost 36 zwischen Hochbahn und Mauer war davon nicht viel angekommen. Das hintere Kreuzberg war Berlins Armutsviertel geblieben. So gesehen hatte die Dichotomie Berliner und Anti-Berliner im Nachhinein auch einen plakativen Beigeschmack. Während sich die Berliner, fein herausgeputzt, bei Champagner und Häppchen, am 30. April 1987 selbst feierten, veranstalteten die verarmten Kreuzberger einen Tag später ihre eigene Party, nur um ein Vielfaches lauter und feuriger.

Die Nachricht vom Polizeieinsatz im Mehringhof hatte sich längst herumgesprochen, als am Nachmittag auf dem Lausitzer Platz das traditionelle Straßenfest von Alternativer Liste (AL) und Sozialistischer Einheitspartei Westberlins (SEW) begann. Die Stimmung war ausgelassen und angespannt zugleich. Als die Polizei eine Spontandemonstration gegen eine in der Szene verhasste Kita stoppte, begann, was der Spiegel später so nannte: „Berlin war Harlem“.

Wenn Harlem in den 80er Jahren für einen Stadtteil stand, in dem das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr griff, war Kreuzberg tatsächlich Harlem. Weil sie an diesem Freitagabend nicht genügend Einsatzkräfte mobilisieren konnte, zog sich die Polizei gegen 23 Uhr aus Kreuzberg SO 36 zurück und überließ den Stadtteil sich selbst.

Autonome, Punks, Alkis und junge Migranten (damals schlicht „Türkenkids“ genannt) verwandelten den Görlitzer Bahnhof zum Schauplatz einer ganz speziellen „Sinfonie der Großstadt“. Mit Steinen und Stangen wurde auf die Stahlträger der Hochbahn getrommelt, der Soundtrack der Revolte war überaus rhythmisch.

Die Bilanz am nächsten Morgen: 36 Läden geplündert, alle Telefonhäuschen zerstört, der Görlitzer Bahnhof ein Trümmerfeld.

Doch schon bald schlug die freigesetzte Energie um in Zerstörung und Selbstzerstörung. Die ernüchternde Bilanz am nächsten Morgen: 36 Läden geplündert, alle Telefonhäuschen im Kiez zerstört, der Görlitzer Bahnhof ein Trümmerfeld. Zum Symbol des 1. Mai 1987 aber wurde der ausgebrannte Bolle-Markt in der Wiener Straße, fotografiert von Anwohnern wie Touristen.

Plünderer in Stöckelschuhen

Kaum waren die Tränengasschwaden der Polizei, die den Kiez gegen 2 Uhr morgens wieder zurückerobert hatte, verflogen, begann die Suche nach dem Warum. Eine Pastorin aus der Lausitzer Straße beobachtete Mitglieder eines Kirchenkreises, wie sie bei Bolle plünderten, Seite an Seite mit „Damen in Stöckelschuhen“. „Ein Gemisch aus materieller und ideeller Not“ machte der spätere SPD-Bezirksbürgermeister und Bausenator Peter Strieder aus. „50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, 70 Prozent bei ausländischen Jugendlichen. 11.000 Sozialhilfeempfänger. Da braut sich was zusammen“, bilanzierte Strieder. „Die Leute haben keine oder nur wenig Lebensperspektive. Da kommt es irgendwann einmal zur Eruption.“

Für die Revolte verantwortlich waren also nicht „Anti-Berliner“, wie Eberhard Diepgen mutmaßte, sondern jene Berliner, die geografisch und sozial am Rande des damaligen Westberlins lebten und sich eine Nacht lang holten, was ihnen den Rest des Jahres über verweigert wurde. Selbst die Abriegelung Kreuzbergs durch die BVG, die den Betrieb auf der Hochbahnlinie 1 eingestellt hatte, hatte nicht verhindern können, dass der Tauentzien zum Scherbenhaufen wurde.

Die Anti-Berliner, die Diepgen meinte, die Autonomen und Stadtteilaktivisten, die schon früh in dieser Nacht die Kontrolle über das Geschehen verloren und am nächsten Tag die Zerstörung kleiner Geschäfte kritisierten, traten erst beim Besuch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan am 12. Juni wieder in Erscheinung.

Der 1. Mai 1987 war also alles: Revolte, Orgie der Gewalt, Harlem. Kreuzberg SO 36 wurde zum Symbol einer gescheiterten Sanierungspolitik. Auch die zahlreichen Selbsthilfeprojekte und die Wahlerfolge der Alternativen Liste hatten nicht verhindern können, dass der Stadtteil abgehängt blieb. Schon vor 30 Jahren existierte in Berlin ein politischer Raum, der für Parteienpolitik im Grunde verloren war.

1. Mai 2016

Auch 2016 bot sich ein ähnliches Bild Foto: dpa

Den autonomen Stadtteilgruppen dagegen war es in den Monaten danach gelungen, in diese Lücke zu preschen. Bei einem „Kiezpalaver“ wurde ein „Kiezspaziergang“ für den November beschlossen, an dem über 3.000 Menschen teilnahmen. Die Besetzung der Reichenberger Straße 63 markierte dann den Beginn eines „neuen Häuserkampfs“.

Rache der Polizei

Der Höhepunkt der autonomen Charmeoffensive aber war der 1. Mai 1988. Zum Jahrestag der Revolte mobilisierte die linke Szene tatsächlich 10.000 Menschen zur ersten „Revolutionären 1. Mai Demonstration“. Gleichzeitig ließ es sich die Polizei nicht nehmen, für die Schlappe im Jahr davor Rache zu nehmen. Es gab 134 Festnahmen und 24 Haftbefehle. Doch das hielt die Jugendlichen in den Folgejahren nicht davon ab, zu Tausenden nach Kreuzberg zu kommen.

Es war der Beginn eines Rituals, dem ein weiteres Jahr später sogar der erste rot-grüne Senat in Westberlin zum Opfer fiel. „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten, wer verrät uns schneller, die ALer“, skandierte die Szene und verkloppte die vom SPD-Innensenator Erich Pätzold auf Deeskalation eingeschworenen Polizeibeamten. Noch einmal war Kreuzberg der Nabel der linksradikalen Berliner Welt. Sechs Monate später fiel die Mauer.

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