CONSTANZE KURZ POLITIK VON UNTEN: Rafft euch auf, ihr Digitaliener!
Ob es die Außerpapierne Opposition wohl schafft, am Sonntag Stimmung in Stimmen zu verwandeln? Immerhin ließe sich vielleicht durch beherztes Wählen doch noch die Höchststrafe des großkoalitionären „Weiter so“ verhindern
Es ist wieder so weit: Diesen Sonntag dürfen wir wählen, uns ganz unserem Staatsbürgerdasein hingeben. Und sind wir nicht alle unglaublich froh, dass sich der schnarchnasigste Wahlkampf aller Zeiten endlich zu Ende geht? Das Gruppenkuscheln der ehemaligen Volksparteien ist ja kaum zu ertragen, und der Vereinigungsparteitag zur Nostalgischen Einheitspartei Deutschlands scheint nicht mehr lange hin zu sein.
Wenigstens winkt nach der Wahl die vage Aussicht, die unbeliebtesten Spezialexperten der großen Koalition hinter sich zu lassen: den Neusprechmeister und größten Innenminister aller Zeiten Wolfgang Schäuble, der uns allen Ernstes kurz vor der Wahl noch mit der Aussicht beglückt, die ohnehin kaum wirksame parlamentarische Geheimdienstkontrolle abzuschaffen; den Außenminister und Schröder-Schattenmann Frank-Walter Steinmeier, dessen Entschuldigung an den als „Terrorverdächtigen“ verschleppten Murat Kurnaz noch immer aussteht; die Justizministerin Brigitte Zypries, die uns die monströse Vorratsdatenspeicherung geschenkt hat und ansonsten rehäugig das Internetzensurgesetz damit rechtfertigt, dass die zuvor mit den Providern geschlossenen Verträge rechtswidrig seien; und ihre Kollegin vom Familienressort, deren vorgeblicher „Millionenmarkt der Kinderpornografie im Netz“ zwar nicht existiert, aber dennoch bis heute in ihren demagogischen Reden nie fehlt, und die dem Wahlvolk im Brustton der Überzeugung weismachen möchte, Stoppschilder hülfen beim Kinderschutz. Blickt man zurück auf die Legislaturperiode, packt einen wirklich das Gruseln.
Doch was droht nach der Wahl? Die Höchststrafe für das Volk wäre die Fortsetzung der unseligen Koalition der Weiter-so-Fraktion. Im Schwanken zwischen sozialdemokratischer Ruhrgebietsromantik und Guttenberg’schem Ölscheitel-Marktextremismus würden nur weitere vier Jahre verschwendet, die besser für eine ökologische, soziale und bürgerrechtliche Erneuerung des Landes verwendet werden sollten.
Aber was hilft dagegen? Wahrscheinlich bleibt es ein frommer Wunsch, dass wenigstens ein Teil der Nichtwähler doch ein Kreuzchen macht, schon deshalb, weil Bundeskanzlerin Angela „Wir werden eine gemeinsame Lösung finden“-Merkel niemanden vom Fernseher wegprovoziert. Noch nicht mal, um sie abzuwählen.
Spannend bleibt also nur die Frage, ob sich die Außerpapierne Opposition, die Bürger Digitaliens, an diesem Sonntag in ausreichender Zahl aufraffen, ihrer Stimmung eine hörbare Stimme zu verleihen. So infantil und ungehobelt die Piraten manchmal sind, immerhin sind sie noch nicht verschlissen und von Kompromissen zerfressen wie alle anderen. Der ganz leise Wunsch, ein überraschend hohes Abschneiden der Piraten würde die etablierte Politik ins Stottern bringen, bleibt.
Interessant wird es auch, falls eine oder mehrere der derzeitigen Oppositionsparteien in eine Machtposition geraten. Denn die Versprechungen für mehr Freiheits- und Bürgerrechte sind allesamt aufgezeichnet und archiviert. Mit einer Müntefering’schen „Was kümmert mich mein Wahlkampfgeschwätz von gestern“-Attitüde wird sich im Netz, das bekanntlich nicht vergisst, kein Staat machen lassen. Das gilt sowohl für die Grünen als auch für die Linke und die Westergewellten.
■ Die Autorin ist Sprecherin des Chaos Computer Club Foto: privat
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