piwik no script img

bücher aus den chartsEinladung zur Zeitreise

Daran, dass Charlotte Roche an der Spitze der Bestsellerlisten steht, hat man sich längst gewöhnt. Aber das sagt höchstens die halbe Wahrheit darüber, welche Bücher sich gerade hierzulande gut verkaufen. Denn kurz dahinter, auf Platz zwei, steht Siegfried Lenz’ Novelle „Schweigeminute“, und das ist ein Buch, wie es weiter entfernt von Feuchtgebieten gar nicht sein kann.

Siegfried Lenz, inzwischen 83 Jahre alt, erzählt norddeutsch unterkühlt und dezent von einer Liebesepisode zwischen einem Gymnasiasten und seiner Englischlehrerin. Es ist die Zeit, als man noch ernsthaft über George Orwells Parabel „Animal Farm“ diskutierte und William Faulkner noch als große Entdeckung galt. Man erfährt als Leser einiges über den Alltag in einem Hafenstädtchen, das Handwerk des Steinefischens wird beschrieben. Es gibt so schöne Begriffe wie Butt petten, und eine maritime Wendung wie „der alte Bordfunker“ reicht, um den Vater der Lehrerin zu charakterisieren. Natürlich ahnt die Umgebung etwas von der Affäre, weiß aber nicht recht, wie sie damit umgehen soll. „Was wir verschweigen, Christian, ist mitunter folgenreicher als das, was wir sagen. Verstehen Sie, was ich meine?“, sagt der Direktor einmal zu dem Schüler, aber da ist die Englischlehrerin bereits tot. Bevor der Schüler und sie sich über ihre Gefühle klar werden können, stirbt sie bei einem Schiffsunglück, was zu verraten keine Spannung wegnimmt: Mit der Trauerveranstaltung für die gestorbene Lehrerin setzt das Buch gleich ein.

Es hat etwas ungeheuer Rührendes, diese schmale Geschichte zu lesen. In Besprechungen wurde bereits drauf hingewiesen, das Buch habe Retro-Charme, und das ist unbedingt wahr. Beim Lesen fällt einem sofort der eigene Deutschunterricht ein, und augenblicklich hat man die Punkte im Hinterkopf, auf die heutige Studienräte ihre Schüler gut hinweisen könnten: darauf etwa, wie stilvoll Siegfried Lenz unpersönlicher sachlicher Erzählperspektive und anrufender Du-Perspektive hin und her wechselt (gute Stelle auf Seite 62: „Dein Lächeln, Stella, als du hereinkamst…“ und kurz darunter: „Sie machte ein paar Schritte, blieb vor ihrem Schreibtisch stehen…“); oder auf die sorgfältige Konstruktion der Erzählung, die mit der Gedenkstunde für die gestorbene Lehrerin einsetzt, dann in einem Rückgriff die Vorgeschichte erzählt, dann kurz berichtet, was nach der Feier geschieht, dann wieder zurück in die Vorgeschichte taucht und den Schiffsunfall schildert, um zum Schluss wieder bei der Gedenkstunde zu enden; oder auf die Verquickung von Tragik und Zufall: Das Schiff rammt einen der schweren Steine, den Christian mit seinem Vater kurz zuvor in der Nähe der Hafeneinfahrt als Wellenbrecher versenkt hat. All das lieben Deutschlehrer.

Während Günter Grass immer wieder mit seinem Ego ringt, während Martin Walser sich manchmal in seinem Projekt verheddert, bei seinen Figuren genau hinzufühlen, hat Siegfried Lenz hier eine wohltemperierte Erzählung vorgelegt. Man liest sie absolut gerne. Und es macht gar nichts, dass man dem Text die Liebesgeschichte an keiner Stelle abnimmt und dass die ganze Geschichte etwas zu hingeschreinert wirkt. Man kann sich in sie sanft zurückgleiten lassen. Eine Einladung zu einer sentimental journey in die Literatur der alten Bundesrepublik ist dieses Buch. Und man kann sich darüber freuen, dass sie so formvollendet gelungen ist.

Aber irgendjemand müsste bald auch mal erklären, warum sowohl Bücher, die alles aussprechen, als auch Bücher, die viel verschweigen, sich gerade so gut verkaufen. DIRK KNIPPHALS

Siegfried Lenz: „Schweigeminute“. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 128 Seiten, 15,95 Euro

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen