TV-Drama über Widerstand gegen NS: Nazis bürsten
Trotz des beknackten Titels: Das Doku-Drama „Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“ ist ein früher Höhepunkt des Fernsehjahres.
Inge Deutschkron ist 90 Jahre alt. Es ist unfassbar, was diese winzig kleine Frau mit den kurzen roten Haaren für eine Ausstrahlung hat, was für eine Energie! Fast scheint sie Funken zu sprühen beim Erzählen.
Die Autorin tritt als Zeitzeugin auf in dem Dokumentarspielfilm „Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“. Es ist Deutschkrons Geschichte. Der Titel ist das Einzige, was missraten ist an der Verfilmung.
Edgar Selge spielt den blinden Bürstenfabrikanten Otto Weidt, der es sich Ende der 1930er Jahre zur Aufgabe gemacht hat, Menschen zu schützen, die von den Nazis verfolgt werden. In seiner Werkstatt am Hackeschen Markt in Berlin-Mitte arbeiten fast ausschließlich blinde Juden, also Menschen, die die Nazis doppelt auf dem Kieker haben. Inge Deutschkron ist 19, als sie bei Weidt als Aushilfe anfängt.
„Der war ein Hochstapler“, sagt sie lachend, „die Bürsten, die er als ’kriegswichtiger Betrieb‘ für die Wehrmacht anfertigte, hat er zu Karstadt getragen und gegen Cognac und Parfüm getauscht, mit dem er dann wieder die Gestapo bestochen hat.“
Zum Beispiel, um seine Arbeiter vor der Deportation zu schützen. Als der blinde Bürstenzieher Levy die Aufforderung zur Deportation erhalten hat, nimmt der Fabrikant die Sache in die Hand. „Ich weiß heute nicht mehr, wie lange Otto Weidt weg gewesen ist“, erzählt Inge Deutschkron, „aber als er wiederkam, strahlte er. Sein faltiges Gesicht zog sich auseinander wie ein Akkordeon. Er lachte und ging sofort in die Werkstatt zu diesem Levy und sagte: ’Hier, erledigt.‘ – ’Erledigt?‘, sagte der Levy. ’Na ja‘, sagte Otto Weidt, ’wie soll ich denn meine Aufträge für die Wehrmacht erfüllen, wenn man mir meine Arbeiter wegnimmt?!‘“
Es ist eine atemberaubende Geschichte, die Inge Deutschkron schon ihr ganzes Leben lang erzählt, in ihrem mehrfach verfilmten Buch „Ich trug den gelben Stern“ genauso wie in ihrer Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus vor einem Jahr: die Geschichte ihres Überlebens als Jüdin im Berlin der Nazizeit, das nicht möglich gewesen wäre ohne Menschen wie Otto Weidt.
Edgar Selge spielt den Fabrikanten nicht als Blinden, sondern als stolzen Mann ohne Augenlicht. Der Körper angespannt, tastend; aufmerksam und doch zielgerichtet; der Blick wandert stets nach oben wie beim angestrengten Nachdenken. Wie die Augen von Schauspielern, die auf der Bühne stehen und ins Publikum schauen, einen Punkt fixierend, der kurz über den Köpfen der Zuschauer liegt. Fast meint man zu sehen, wie er die Ohren spitzt, wie die Härchen auf seinen Armen sich sträuben, wie „der Blinde viel mehr sieht als die Sehenden, weil er vor dem Unglück nicht die Augen verschließen kann“, um die billig klingende Metapher zu benutzen. Hier trifft sie. Das ist Selge in Höchstform.
„Ein blinder Held – Die Liebe des Otto Weidt“, 21.45 Uhr, ARD
Der beknackte Titel dieses großartigen Films verweist auf die zarte Liebesgeschichte zwischen Weidt und seiner jungen jüdischen Sekretärin Alice Licht, genannt Ali, der er später zur Flucht aus dem Konzentrationslager verhelfen wird.
Ungleiches Paar
Regisseur Kai Christiansen inszeniert die Romanze zwischen dem ungleichen Paar gekonnt beiläufig. Immer spiegelt der Film die Umstände, aus denen heraus jeder Liebesschwur gesagt wird, immer wird die Ungleichheit der beiden reflektiert: der Altersunterschied ebenso wie ihre Abhängigkeit von ihm.
Die Spielszenen sind montiert mit dem Deutschkron-Interview, das Sandra Maischberger geführt hat, und mit historischem Filmmaterial, das einmal nicht die immer gleichen Guido-Knopp-Sequenzen zeigt (Sportpalast, marschierende SS, Auschwitz-Befreiung), sondern Berliner Alltag: U-Bahnen, die durch zerbombte Häuser fahren, Menschen mit gelben Sternen, die Koffer in Möbelwagen tragen.
Das TV-Jahr ist nicht mal eine Woche alt und hat vielleicht schon seine Krönung erfahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland